Im Wasser
von Christine Gnahn
Es ist eine Sehnsucht, die in mir besteht, seit ich denken kann. Wasser, wie es manchmal ganz ruhig steht, als könnte man darauf laufen, wie es sich manchmal im Wind wiegt, Wellen schlägt. Wie es platscht, wenn man einen Stein hineinwirft. Oder wenn man eben hineinspringt. Denn noch schöner, viel schöner, als das Am-Wasser-Sein ist das Im-Wasser-Sein. Wie in eine andere Dimension setzt man die Füße hinein und watet, bis das Wasser die Oberschenkel erreicht. Das Wasser berührt und umarmt die Beine, umfasst sie viel fester und enger, als es die Luft sonst tut. Je nach Wärme oder Kälte sind die nächsten Schritte, sich nun bis zum Bauchnabel und schließlich bis zu den Schultern hineinzuarbeiten, vielleicht ein bisschen mit einer inneren Hürde verbunden. So, als ob man unterbewusst wisse, dass man sich nun in eine andere Dimension begibt, die eine Abkehr vom gewohnten An-der-Luft-Sein darstellt. Und dann gibt man sich einen Ruck und taucht ganz ein ins Wasser. Das Nass umgibt jetzt alles, berührt alles, umschließt alles. Eigentlich wie eine Umarmung von einem Wesen, das riesig ist, und sich doch auf einen Menschen herunterbrechen kann und in eine persönliche Beziehung treten kann. Gleichzeitig ist man doch verbunden mit diesem Riesen, der Freiheit bedeutet.
Jetzt beginne ich zu schwimmen. Ich habe das Kraulen gelernt, als ich aufgrund eines Beinbruches lange nicht laufen konnte, und diese Fortbewegungsart im Wasser hat sich bewährt. Sie ist fließender als das Brustschwimmen, das ich zuvor ausgeübt habe. Ich führe einen Arm nach vorne ins Wasser, dann wieder den anderen und sehe das, was ich am liebsten sehe: einfach nur Blau. Je nach See mit unterschiedlichem Grünstich. Darin immer abwechselnd die linke und dann die rechte Hand, wie sie ihren Weg nach vorne bahnt. Ich befinde mich dann nicht nur im Wasser, fühle ich, ich bin auch Wasser. Ich bin Teil von diesem Riesen, in dem ich gerade schwimme. Dass manche bereits gefürchtet haben, ich könnte sinken und ertrinken, erscheint mir widersinnig, auch wenn ich natürlich weiß, dass das grundsätzlich möglich ist. Doch für mich fühlt es sich an, als würde mich das Wasser nicht nur umarmen, sondern auch tragen. So als ob meine Schwimmbewegungen eine reine Spielerei wären, ein reines Rudern, um weiterzukommen, das man jederzeit unterbrechen kann, um ein wenig einfach nur zu sein.
Wasser macht viele Geräusche, viel mehr, als man sie von draußen erahnt und als die Sprache tatsächlich benennen kann. Ein Versuch, es mit der verfügbaren Sprache auszudrücken: Es blubbert und gluckst, es platscht und klatscht, es ist auch einmal still, ohne je ganz still zu sein. Alles, was an Land passiert, touchiert die Geräuschkulisse des Wassers nicht sehr. Hingegen hört man sensibel, was im Wasser passiert. Ein Motorboot in der Nähe kündigt sich schon auf hundert Metern mit einem unangenehmen Surren an. Ein bisschen fühlt man sich dann, wenn man den Kopf herausstreckt, um nachzusehen, wo der „Übeltäter“ ist, wie ein Delfin oder ein Wal, die bekanntlich über große Distanzen kommunizieren können. So weit ist es noch weg und doch konnte ich es schon deutlich wahrnehmen.
„In the water I see everything that lies beneath. In the water I see, who I’m trying to be“, singt Joy Downer im kurzen, verträumt-schönen Lied „In the water“ und genauso empfinde ich es. Während ich schwimme, im Wasser bin, bin ich so sehr ich, wie ich es nur sein könnte. Und in diesem Ich-Sein sehe ich plötzlich Zusammenhänge in meinem Leben ganz klar. So als ob man für den Zeitraum im Wasser sehr weise wäre. Oder vielleicht auch einfach nur einen positiven, liebevollen Blick auf sich und andere trägt. Und das gibt mir ein Gefühl von unendlicher Freiheit.