Reich an Erfahrung
von Ulrike Matzer
In der Mitte des Lebens sieht man sich unweigerlich mit den ersten, weniger angenehmen Aspekten des Alterns konfrontiert. Eines jedoch lernt man in dieser Zeit umso mehr zu schätzen: die Erfahrungen, die das ausmachen, was man letztlich geworden ist.
Im beruflichen Tun kann man auf praktisches Wissen zählen. Mit jahrelanger Erfahrung geht man sicherer, souveräner und zugleich besonnener ans Werk. Und selbst wenn die Arbeitsumstände prekär geworden sind: Ein bestimmtes Können kann einem niemand mehr nehmen.
Erfahrung hilft auf vielen Ebenen, Situationen besser abzuschätzen und bedachtsamer zu handeln. Sie bewahrt einen eher vor Fehlern und falschen Schritten. Auch die Erfahrung anderer kann wertvoll sein – so man bereit ist, deren Ratschläge anzunehmen. Erfahrung ist nicht zuletzt auch die Summe dessen, was man in schwierigen Phasen durchgemacht hat. So schmerzlich solche Prozesse sind, so sehr tragen sie dazu bei, sich selbst besser kennenzulernen und künftig mit Krisen anders umzugehen. Längere schwere Krankheit etwa lässt einen erkennen, wie wertvoll das Leben ist, Gesundheit erscheint plötzlich als höchstes Gut. Die Erfahrung der Linderung von Beschwerden, ja womöglich von Heilung ist ein anderer, wertvoller Aspekt.
Trauer, Schmerz und Verzweiflung empfinde ich nach wie vor, wenn Beziehungen oder Freundschaften auseinandergehen. Doch haben diese Erfahrungen nicht mehr jene existenzielle Dimension wie früher. Kränkungen, Verletzungen tun nach wie vor weh, doch werfen sie mich nicht mehr um. Erfahrung heißt auch, in schwierigen Situationen klarer zu sehen, vieles aus der Distanz und im Vergleich zu betrachten. Es heißt, bestimmte Schritte zu setzen, anstatt in Kummer, Leid oder Apathie zu verharren. Man kann beispielsweise die positive Erfahrung machen, ein Umfeld, das einem nicht guttut, zu verlassen, um sich anderswo besser zu entfalten. Nicht zuletzt öffnet einem die eigene Erfahrung die Augen für die Sorgen anderer, sie bewirkt mehr Mitgefühl und Verständnis. Ein an Erfahrungen reiches Leben ist so gesehen ein Schatz. In trüben Zeiten hilft mir dieses Reservoir, Unangenehmes zu relativieren, und es erlaubt mir im Gegenzug, Schönes zu reaktivieren.