„Es gibt für mich immer mehr als eine Wahrheit“
Sobald Menschen miteinander sprechen, treffen verschiedene Universen aufeinander. Selbst ein wohlmeinender Satz kann beim anderen als Verletzung ankommen. Umso wichtiger ist es, inmitten unterschiedlicher Meinungen die Brücke zum Miteinander im Blick zu haben. Die Salzburgerin Maria Hechenberger ist Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und davon überzeugt, dass es möglich ist, sich sowohl für die eigenen Bedürfnisse einsetzen und zugleich in Verbindung zum Gegenüber bleiben zu können.
Titelinterview mit Maria Hechenberger
von Chefredakteurin Michaela Gründler
Was verbinden Sie mit der Aussage „Das Und vom Oder?“
Maria Hechenberger: Ich verbinde damit den Weg vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch. Für mich ist dieses „Und“ im „Oder“ auch in die jetzige Zeit passend, weil unsere Gesellschaft gerade so viel ins „Oder“ geht. Ich glaube, dass es eine der wichtigsten Aufgaben für uns Menschen ist, dieses „Und“ zu sehen und zu halten.
Wie lässt sich das „Und“ halten?
Maria Hechenberger: Indem ich mir vergegenwärtige: Nur weil das meine Sichtweise ist, heißt das nicht, dass es die Sichtweise ist – denn vielleicht habe ich einfach etwas von der anderen Sichtweise noch nicht verstanden. Es gibt für mich immer mehr als eine Wahrheit.
Bei welchen Gelegenheiten greifen Sie gerne zum „Und“?
Maria Hechenberger: So oft es geht. Am herausforderndsten ist das natürlich bei einer Auseinandersetzung, wenn ich will, dass der andere erkennt, wie richtig meine Meinung ist. (lacht) Dann realisiere ich oft: Wo ist denn das „Und“? Wo ist das „Richtige“ im anderen?
Das Verbindende steht bei der gewaltfreien Kommunikation, die Sie als Trainerin vermitteln, im Vordergrund. Was genau ist gewaltfreie Kommunikation?
Maria Hechenberger: Die gewaltfreie Kommunikation ist eine Haltung des „Und“. Marshall Rosenberg, der die gewaltfreie Kommunikation begründet hat, zitiert dabei gerne den Mystiker Rumi: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“ Bei der gewaltfreien Kommunikation geht es darum, die Bedürfnisse der Sprechenden herauszufinden und zu versuchen, sie für beide Seiten zu erfüllen.
Was sind Bedürfnisse?
Maria Hechenberger: Bedürfnisse sind die Urmotoren all unseres Handelns. Sie sind das Grundlegendste, weshalb wir Dinge machen oder sagen. Egal, ob wir Frauen, Männer oder divers sind, egal, aus welchem Kulturkreis wir stammen, wir haben die gleichen Bedürfnisse. Es gibt individuelle Bedürfnisse nach Autonomie, nach Selbstbestimmung, nach so sein dürfen, wie man ist. Es gibt physische Bedürfnisse nach Nahrung, nach Bewegung. Es gibt verbindende Bedürfnisse nach Wertschätzung, Verstehen, Zugehörigkeit und nach Gemeinschaft. Worin wir uns unterscheiden, sind die Strategien dorthin. Das heißt, wenn ich jemanden sehe, der etwas tut, das mir nicht gefällt, kann ich zur Handlung Nein sagen: „Ich möchte nicht, dass du das tust!“ Wenn beispielsweise ein Kind einem anderen einen Tritt gegen das Schienbein gibt, will ich die Handlung auf jeden Fall unterbinden, kann aber im nächsten Moment schauen, welches Bedürfnis dahinterliegt. Vielleicht möchte das Kind mit dem anderen in Kontakt treten und weiß nicht genau, wie. Dann wäre das ein Bedürfnis nach Verbindung oder nach Freundschaft. Als Erwachsene muss ich dann nicht schimpfen, sondern kann fragen: „Willst du, dass der Paul dich kennenlernt und mit dir spielt? Ja? Dann sag doch ‚Willst du meinen neuen Fußball ausprobieren?‘“ Die Bedürfnisse nach Verbindung und Gemeinschaft habe ich auch. Ich kann also unmittelbar eine Verbindung zu den Menschen herstellen, selbst wenn ich Nein zu der Handlung sage.
Wie gelingt es, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen und dabei in Verbindung zum Gegenüber zu bleiben?
Maria Hechenberger: In der gewaltfreien Kommunikation gibt es vier Schritte: 1. Beobachten, ohne zu urteilen. 2. Gefühle wahrnehmen, ohne zu interpretieren. 3. Sich mit den Bedürfnissen verbinden. 4. Bitten, ohne zu fordern. Das sind zugegebenermaßen keine einfachen Schritte, weil wir nicht gelernt haben, auf diese Art und Weise die Welt wahrzunehmen. Daher braucht es zu Beginn auch Übung, um sich und die anderen neu kennenzulernen und diese Haltung in sich zu verankern. Wir sind es gewohnt, statt zu beobachten, die Dinge sofort einzusortieren und zu interpretieren. Daraus entsteht dann ein Rattenschwanz an fehlgeleiteter Kommunikation, Missverständnissen und Handlungen, die man im Nachhinein oft bereut. Ein einfaches Beispiel: Ein Lehrer beobachtet, wie ein Schüler ein Buch aus der Schultasche einer anderen Schülerin nimmt. Er kann seine Beobachtung auf zweierlei Weise angehen. Entweder – im herkömmlichen Denken – interpretiert er das Gesehene möglicherweise als Diebstahl. Oder aber er sucht nach weiteren Informationen, um die Realität zu überprüfen: Hat die Schülerin dem Schüler erlaubt, sich das Buch zu nehmen? Hat der Schüler die Schultasche verwechselt? Je nachdem, welcher Wahrnehmung wir Glauben schenken, bestimmt das unser Fühlen und Handeln.