Tafelfreuden weise genießen
Essen ist für uns überlebenswichtig. Zugleich ist es eine Kulturtätigkeit und hat sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt und verwandelt. Der Salzburger Historiker Gerhard Ammerer hat sich beruflich ausführlich mit der Gastrosophie beschäftigt, der Lehre von der Weisheit des Essens. Im Apropos-Gespräch wirft er einen Blick auf Salzburgs Esskultur und spannt dabei den Bogen zwischen Schauküche und Hunger.
Titelinterview mit Gerhard Ammerer
von Chefredakteurin Michaela Gründler
Was bedeutet für Sie Essen?
Gerhard Ammerer: Außer, dass man ohne Kalorienzufuhr nicht überleben kann, hat Essen für mich sehr viel mit Geschmack und Genuss zu tun. Essen ist eine Kulturtätigkeit und hat sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt und enorm gewandelt. Es lässt sich historisch gut erforschen, wie sich Menschen jeweils ernährt haben und welchen Stellenwert für sie die Ess-kultur hatte. Persönlich finde ich es einfach schön, wenn man gemütlich, entweder daheim oder in einem Wirtshaus, etwas Gutes isst und trinkt, am besten gemeinsam mit einem lieben Menschen oder mehreren Personen und mit bereichernder Kommunikation.
Was essen Sie am liebsten?
Gerhard Ammerer: Ich mag sehr gern Fisch und Gemüse, das ich auch selbst in einem Garten anbaue. Beim Fleisch achte ich auf hochwertige Qualität.
Am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg gibt es die Abteilung Gastrosophie mit einem Masterlehrgang zum Thema „Ernährung – Kultur – Gesellschaft“, die Sie bis vor Ihrer Pensionierung geleitet haben. Was ist die Gastrosophie?
Gerhard Ammerer: Gastrosophie ist die Kunst, Tafelfreuden weise zu genießen. Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert und setzt sich aus den altgriechischen Begriffen „Gaster“ für den Magen und „Sophia“ für die Weisheit zusammen. Gastrosophie verstehen wir als Zusammenwirken aller natur- wie geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen, die sich auf Ernährung beziehen. Daher beschäftigen wir uns am Fachbereich und im Masterlehrgang mit einer großen Bandbreite von Themen: mit Lebensmittelerzeugung, Kochen, Genuss, mit dem europäischen Lebensmittelrecht, mit Philosophie, Medizin, Biologie, Landwirtschaft sowie mit Warenströmen und Foodtrends. Bislang haben rund 100 Personen aus dem Journalismus, der Pädagogik, der Ärzteschaft, dem Diätbereich, dem Lebensmittelhandel sowie der Gastronomie das fünfsemestrige berufsbegleitende postgraduale Studium absolviert.
Was fasziniert Sie am meisten daran?
Gerhard Ammerer: (lacht) Als Historiker natürlich vor allem der historische Aspekt. Das größte Forschungsprojekt haben wir von 2016 bis 2019 durchgeführt: die Ernährungsgeschichte der Stadt Salzburg vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, also vom Spätmittelalter bis zum Ende des Barock. Darin lassen sich die Unterschiede im Ernährungs- und Kochverhalten der verschiedenen Schichten der Bevölkerung ablesen – fürsterzbischöflicher Hof, Klöster, Gastronomie, städtisches Bürgertum und institutionelle Armenküche –, aber auch, woher die Lebensmittel stammen. Wir liegen ja direkt im Zentrum des Nord-Süd-Handels, von Venedig hin zu den oberdeutschen Städten Nürnberg und Augsburg. Durch diese besondere, zentrale Lage kamen viele Lebensmittel zu einem vernünftigen Preis nach Salzburg, zum Beispiel im Winter vom Gardasee Zitrusfrüchte oder Gewürze über Venedig, sodass sich innerhalb der Küche eine große Vielfalt entwickeln konnte, oder auch griechische Süßweine, die man als etwas besonders Repräsentatives vor allem bei Festen getrunken hat.
Was sind denn die größten Ernährungsunterschiede innerhalb der historischen Salzburger Bevölkerung?
Gerhard Ammerer: Salzburg war lange Zeit ein Erzstift, und ein Regent – auch ein Fürsterzbischof – musste immer repräsentieren. Prunk und zur Schau gestellter Überfluss sind Teil der Politik. An einem Bischofshof findet ein reges Kommen und Gehen von Gästen statt – und der Erzbischof will zeigen, was er sich leisten kann, gerne auch mittels Exotik. Daher gab es etwa Speisen, die reine Schaugerichte waren und nicht zum Verzehr gedacht. Von größeren Hochzeiten – vor allem an fürstlichen Höfen – ist beispielsweise bekannt, dass riesige Pasteten gebacken wurden, aus denen dann Tauben herausflogen, und Ähnliches mehr. Für unsere heutigen Begriffe ist das kein Essen mehr und wirkt richtiggehend dekadent, aber der Hof musste repräsentieren. Das färbte in weiterer Folge auf das Bürgertum ab. Die reichen, vermögenden Bürger eiferten der Hofküche nach und übernahmen einige der Schaurezepte, die auch Eingang in die barocken Kochbücher fanden. Das kam für 90 Prozent der Bevölkerung natürlich nicht infrage, weil das viel zu teuer war. Die kleinen Leute ernährten sich hauptsächlich von Brei und Brot.
Ein großer Kontrast zwischen Schauessen und Hunger …
Gerhard Ammerer: In der Tat, aber manchmal hat man sogar in Fürsorgeinstitutionen wie dem Bürgerspital oder dem Bruderhof gut gegessen, weil man vom Hof mitversorgt wurde. Denn mehrmals im Jahr hat der Erzbischof diesen Einrichtungen Wildpret geschenkt, manchmal auch Bier. Dadurch hat der Erzbischof als Landesherr und geistlicher Fürst versucht, zu zeigen, dass er sich um seine Untertanen kümmert, und so auch den sozialen Frieden sicherzustellen.
Die Gastrosophie spricht von drei Arten von „Essern“: Den Gourmet, den Gourmand und den Gastrosophen. Wie unterscheiden sich diese?
Gerhard Ammerer: Der Gourmet ist sicher der bekannteste unter den drei Begriffen. Er ist jemand, der nur nach dem Geschmack geht und ein richtiger Feinschmecker ist. Der Gourmand schätzt Masse und Quantität und gilt gemeinhin als Vielfraß. Der Gastrosoph hingegen denkt über das Essen nach, über dessen Herkunft und wie es sich auf die Gesundheit und Nachhaltigkeit auswirkt, er ist also der bewussteste Speisenkonsument.