Mut zur Wahrheit
von Sandra Bernhofer
Es gibt da einen Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen, ist M. überzeugt. Und er ist einer, der es wissen muss: Seine Mutter kommt aus Österreich, der Vater aus Deutschland; seine Wohnung liegt in Bayern, der Arbeitsplatz in Salzburg. Der Unterschied, sagt M., ist der Umgang mit der Wahrheit. In Österreich gilt sie schnell als ungehörig. Lieber schmiert man dem anderen Honig ums Maul, als sich einem Konflikt zu stellen. Nur nicht anecken, lautet die Devise. Es sollen sich ja alle wohlfühlen.
Die Wahrheit ist etwas, von dem ich immer geglaubt habe, dass es mir leicht über die Lippen kommt. Immerhin hat sie genug Schattierungen, dass ich für jeden etwas Passendes herauspicken kann. Aber M. hat mich zum Nachdenken gebracht. Und auch C.: „Ich habe dich nie belogen“, sagt er, „ich habe dir nur einiges verschwiegen.“ Und da dämmert mir: Viel zu oft tue auch ich genau das. Und lebe damit an meiner Wahrheit vorbei.
Wahrheit braucht Mut. Nicht nur den Mut, sich den potenziellen Unmut anderer zuzuziehen – damit habe ich kein Problem. Mit kleinen Schummeleien, um das Ego anderer zu schonen, habe ich mich selten aufgehalten. Selbst wenn sie als das Schmieröl sozialer Gemeinschaften gelten. Aber Wahrheit braucht auch den Mut, zu sich selbst zu stehen und für die eigenen Bedürfnisse einzutreten. Und da, das muss ich zugeben, verschlägt es mir immer noch viel zu oft die Sprache. Dann nämlich, wenn ich C. sagen will, dass es gerade nicht in Ordnung ist, wie er mit mir umgeht. Oder dann, wenn ich in einem meiner Jobs Grenzen ziehen muss.
Auf der Suche nach der eigenen Wahrheit muss man mitunter in die hintersten Ecken seines Gehirns vordringen. Und ich sollte nicht davor zurückschrecken, diesen Weg zu gehen. Denn der erste Schritt, um die eigene Wahrheit zu leben, ist, sie anzunehmen. Vielleicht gelingt es mir so im neuen Jahr ein bisschen besser, meine Wahrheit mutig auszusprechen.