Erhebende Kunst für alle
Marinella Senatore hat mit ihren Mitmach-Kunstprojekten bereits über acht Millionen Menschen in 24 Ländern erreicht. Im Rahmen der Sommerszene möchte sie Salzburg in Bewegung bringen – und hofft, dass bei der großen Straßenparade am 24. 6. auch viele Menschen teilnehmen, die im Kunstbetrieb ansonsten wenig sichtbar sind. Denn ihr Ziel ist es, Gemeinschaften zu schaffen, in denen sich Menschen zugehörig fühlen.
Titelinterview mit Marinella Senatore von Monika Pink
Frau Senatore, welche Verbindung sehen Sie zwischen dem Begriff „sprießen“ und Ihrer Kunst?
Marinella Senatore: Er passt perfekt zu meiner Arbeit, weil ich mit meiner Kunst Menschen in einem gemeinsamen Schaffensraum zum Aufblühen bringe. Wenn etwas sprießt, ist es sehr zerbrechlich, aber gleichzeitig voller Energie für den Durchbruch. Genau auf dieser Energie liegt mein Fokus: Ich verbinde mich mit ihr, nehme sie auf und habe die Fähigkeit, sie für andere sichtbar und erlebbar zu machen. Das ist der heikelste und unglaublichste Moment, der aber auch viel Achtsamkeit und Fürsorge braucht. Nichts kann wachsen, wenn es nicht gehegt und gepflegt wird.
Und dieses „Hegen und Pflegen“ sehen Sie als Ihre künstlerische Aufgabe?
Marinella Senatore: Für mich sind Emotionen und Gefühle Teil der Kunst, sie ist ein Mittel oder eine Sprache für die gegenseitige Fürsorge. Ich glaube, dass sich die Kunst lange Zeit nicht um die Menschen gekümmert hat. Aber gerade nach der Pandemie ist das nicht mehr möglich, wir können nicht mehr zurück zum Stand davor. Wir müssen Dinge anders, besser machen. Leider sehe ich das nicht, auch nicht in der Kunst. Aber wenn man wie ich mit Menschen arbeitet, erkennt man, dass wir nur überleben, wenn wir uns umeinander kümmern und gemeinsame Erfahrungen teilen.
Ist das eine Erkenntnis aus Ihrer Arbeit mit über acht Millionen Menschen auf der ganzen Welt?
Marinella Senatore: Ich werde oft gefragt, was diese Menschen alle gemeinsam haben. Ehrlich gesagt nicht viel. Sie sind total unterschiedlich, was ihre Kulturen, Wünsche und Lebensrealitäten betrifft. Was ich aber überall beobachtet habe, ist das Fehlen von Zugehörigkeitsgefühl. Da ist so viel Einsamkeit, ich sehe das Konzept der Gemeinschaft in einer großen Krise. Wir müssen Gemeinschaften schaffen, die Menschen annehmen und ihnen das Gefühl geben, dazuzugehören. Gemeinschaften, die offen für Diversität sind und nicht auf ökonomischen Klassen oder Ethnizität beruhen, sondern auf unserem menschlichen Dasein, unseren Gefühlen und dem gemeinsamen Erleben.
Versuchen Sie das den Menschen mit Ihrer Mitmach-Kunst zurückzugeben?
Marinella Senatore: Ja, das sehe ich als meine Verantwortung vom ersten Tag an. Meine Projekte sind offen für alle Menschen. Ich ermögliche einen kreativen Raum, wo die gesellschaftlichen Konzepte von Leistung, Produktivität, Erfolg und Scheitern völlig außer Kraft gesetzt sind. Jede Person kann ihre Geschichte neu schreiben und oft erlebe ich, dass gerade die verletzlichsten und stigmatisiertesten Menschen unserer Gesellschaft hier eine führende Rolle übernehmen, sich komplett verändern und sich auch der Blick der anderen auf sie ändert. Dadurch entstehen neue Beziehungen, die oft auch fortdauern.
Was ist die School of Narrative Dance, mit der Sie für die Sommerszene nach Salzburg kommen?
Marinella Senatore: Ich mache seit 2006 partizipative Kunst, aber 2012 habe ich erstmals die Wichtigkeit des Körpers entdeckt. Ich war fasziniert davon, wie der Körper Erinnerungen speichert, aber auch die Transformation von Menschen möglich macht. Mir ist bewusst geworden, dass mein Körper und mein Verstand voneinander abgespalten waren und dass es vielen Menschen so geht. Aber wenn man dem Körper
nicht folgt, erlaubt man ihm auch nicht, den Geist zu heilen. Ich habe mich dann viel mit Tanz, Choreografie und Performance beschäftigt und auch damit, wie Tanz ebenso wie das Geschichtenerzählen seit jeher zur Gemeinschaft gehört und unsere Identität prägt. Daraus ist die School of Narrative Dance (SOND) entstanden, die keine Struktur und kein Gebäude hat, sondern ein Gefäß ist für alle künstlerischen Erlebnisse, die wir teilen.
Wie kann man sich die Projekte der School of Narrative Dance vorstellen?
Marinella Senatore: Jedes Projekt ist einzigartig, weil es von der Stadt und den Leuten dort abhängt. Die SOND wird von Museen oder Universitäten eingeladen, um mit Menschen vor Ort eine gewisse Zeit lang zu arbeiten. Das kann in Form von Meetings, Workshops, Zusammenkünften oder was auch immer sein, da gibt es keine Vorgabe. Die einzige Regel ist, dass die Resultate in einer Parade auf der Straße präsentiert werden, an der alle teilnehmen. Es gleicht einer Prozession: Wir gehen gemeinsam, bleiben stehen, es folgt eine Aufführung, dann gehen wir weiter und so fort.
Was ist das Besondere an der Parade?
Marinella Senatore: Sie ist nicht nur eine Performance, sondern mehr wie ein kollektives Ritual. Es kommt nicht darauf an, wie gut du tanzt oder singst oder dich bewegst, sondern da passiert viel mehr. Leute, die sich nicht kennen und die sich in Alter, Geschlecht, Kultur, Sozialstatus und so weiter unterscheiden, erleben etwas gemeinsam und fühlen eine unglaubliche Verbundenheit. Die WHO hat herausgefunden, dass sich bei Massenritualen sogar der Herzrhythmus der Menschen aneinander angleicht. Für mich gibt es keine bessere Vorstellung von Gemeinschaft als das – und ich schwöre, ich habe es in manchen Momenten unserer Paraden genauso verspürt.
Wie bereiten Sie diese Parade vor, das ist ja auch logistisch ganz schön herausfordernd?
Marinella Senatore: Ich habe ein Team aus ehemaligen Teilnehmer:innen, das mir organisatorisch hilft und auch Leute vor Ort findet, mit denen ich dann für die Workshops zusammenarbeite. Das sind lokale Choreograf:innen, Pädagog:innen oder Lehrer:innen, die einen Community-Fokus haben, etwas bewegen wollen und mit den verschiedensten Gruppen arbeiten können. Das ist Teil des künstlerischen Prozesses, wir proben nicht, vieles entsteht spontan. Ich bin auch permanent dabei, beobachte, verbinde, kreiere etwas, das den Status quo ändert – und in meinem Kopf entsteht die Struktur der Parade.
Was passiert in den Workshops?
Marinella Senatore: Es gibt hier keine Anweisungen, sondern ein Umfeld, in dem sich alle Menschen ausdrücken können, unabhängig von ihren körperlichen Fähigkeiten. Ich ermutige sie, in ihre Bewegungen hineinzuspüren und zu beobachten, was sich verändert, wenn man sich auf diese oder jene Art bewegt. Ich ermögliche ihnen Erlebnisse, die genau zu ihren Herausforderungen passen. Wir hatten einmal einen Teilnehmer ohne Arme und Beine, aber auch er konnte tanzen. Du kannst deine Stimmbänder vibrieren lassen, deinen Körper ohne Arme bewegen – es geht, und es ist deine Bewegung! Dieses Gefühl kann
das Leben von Menschen verändern, sie zum Aufblühen bringen. Das ist Emanzipation und Empowerment.
Gibt es nicht auch viele Menschen, die Scheu davor haben, öffentlich aufzutreten?
Marinella Senatore: Ja, auch ich war so eine Person, ich kann das gut verstehen. Letztes Jahr wog ich 99 Kilo und es fiel mir schwer zu gehen. Aber es gibt so viele Wege, wie man sich mit dem Körper ausdrücken kann. Man kann die Workshops ohne Verpflichtung besuchen, kann am gemeinsamen Erlebnis teilhaben, ohne öffentlich auftreten zu müssen. Das sage ich am Beginn immer dazu. Das Schöne ist, dass die Leute nach dem Workshop auch bei der Parade mitmachen – weil sie ihre Art des Ausdrucks gefunden haben.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als Künstlerin in diesen Projekten?
Marinella Senatore: Früher sah ich mich nur in der aktivierenden Rolle, als diejenige, die die Energie der anderen spürt, aufnimmt und weiterentwickelt. In der Zwischenzeit habe ich gemerkt, dass ich
selber auch Bestandteil dessen bin, was passiert. Meine Gefühle haben eine Auswirkung auf die Menschen, und wenn es mir nicht gut geht, stockt auch das Projekt. Sie müssen meine Energie spüren und das Vertrauen, das ich in sie habe. Das merke ich auch bei der Parade, da ist eine starke Verbindung da. Ich bin diejenige, die die Energie der Menschen scheinen lässt und ihnen ihre Würde garantiert.
Wie nachhaltig sind die Erlebnisse der Teilnehmenden? Wie kann das, was im Projekt sprießen konnte, bewahrt werden?
Marinella Senatore: Es ist unmöglich, bei meinen Projekten mitzumachen, ohne in Beziehung zu treten. Wenn sich Menschen vor und mit anderen ausdrücken, entstehen Verbindungen und das Gefühl, wo dazuzugehören – und zum ersten Mal hat dieses Dazugehören nichts mit Reichtum, Hautfarbe, Alter, Behinderung etc. zu tun. Das verändert ihr Leben. Viele dieser Menschen sind weiterhin untereinander oder mit mir in Kontakt, einige haben sogar weitere gemeinsame Projekte initiiert. Das ist fantastisch, daran merke ich, dass ich etwas richtig gemacht habe. Um ihnen einen Namen und eine Struktur zu diesem Zugehörigkeitsgefühl zu geben, können sie alles, was sie möchten, unter dem Schirm der School of Narrative Dance weiterführen, auch wenn ich nicht dabei bin. Das ist mein Beitrag und Vermächtnis, der Einsamkeit etwas entgegenzusetzen.
Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie Künstlerin werden wollen?
Marinella Senatore: Schon als ich ganz jung war, konnte ich mir nichts anderes vorstellen. Ich war überzeugt, dass das mein Weg und meine Berufung ist. So habe ich von klein auf gezeichnet und gemalt, aber ich habe auch Geigenunterricht genommen. Ich bin dann auf die Akademie der bildenden Künste und auf die Filmschule nach Rom, weil mich auch die Kinematografie sehr interessiert hat. Ich habe viele Gelegenheiten genutzt, verschiedene künstlerische Ausdrucksformen kennenzulernen – immer mit dem Ziel, all diese Erfahrungen miteinander zu verbinden und künstlerisch umzusetzen.
Sie arbeiten so vielfältig und mit so vielen unterschiedlichen Materialien. Wie entscheiden Sie, welche Kunstform für welches Thema die richtige ist?
Marinella Senatore: Ich bin sehr multidisziplinär und möchte ständig neue Ausdrucksformen erforschen. Auch wenn ich sehr reflektiert bin und viel nachdenke, lasse ich mich bei der Wahl meines Mediums von meinem Instinkt leiten. Ich sehe alle Möglichkeiten vor mir und fühle, welche die richtige ist. Ich finde, Kunstschaffende sollten nicht bei einer Formel bleiben, nur weil sie funktioniert. Ich werde bis zu meinem letzten Tag neue Möglichkeiten entdecken. Es entspricht auch dem Zeitgeist, multidisziplinär zu sein, weil wir tagein, tagaus durchgehend von Geräuschen, Farben, Bewegung und Informationen umgeben sind.
Wie verarbeiten Sie selbst all diese intensiven Erlebnisse mit so vielen Menschen?
Marinella Senatore: Ich zeichne und mache Collagen – ich muss etwas mit den Händen machen. Das ist meine Art von Meditation, meine Art, die Dinge zu verstehen und im Nachhinein in meinen Gedanken zu ordnen. Auch während der Projekte bin ich permanent am Zeichnen und Notieren, ich halte Sätze, Farben und alles Mögliche fest. Jedes Projekt ist sehr emotional und hat eine Auswirkung auf mich. Die kann ich am besten künstlerisch verarbeiten, am liebsten mit Papier und mit den Händen. Damit kann ich auch Abschied nehmen von einem Projekt und frei für das nächste sein.
Ihre Kunst lebt von Partizipation und Mitmachen. Wie passt so etwas in Ausstellungen und Museen?
Marinella Senatore: Für mich ist es wichtig, Ausstellungen und Performances zusammen zu machen. In der Ausstellung erzähle ich die Geschichte, und man versteht besser, was man auf der Straße sieht, wenn man die Geschichte kennt. „Wir sind hier, weil andere vor uns hier waren“, diesen Satz mag ich sehr. Denn ich zeige in Videos und Kunstwerken alles, was bis dahin passiert ist – als Referenz und Anerkennung all dieser Energie, die schon da war. Viele meiner Installationen kann man benutzen, also passiert hier ebenfalls Interaktion. Und dann gibt es noch den Dancefloor der SOND.
Was ist der Dancefloor und wozu dient er?
Marinella Senatore: Der Dancefloor ist fixer Bestandteil der Ausstellung und auf ihm finden Workshops statt, direkt im Museum. So können die Besucher:innen mit eigenen Augen das Entstehen des Projekts sehen, und oft möchten sie spontan mitmachen. Und auch wenn sie nicht aktiv mittun, sehen sie doch den Prozess. Das ist für mich essenziell, weil ja der Prozess das Kunstwerk ist. Außerdem können sich Leute oder Communitys den Dancefloor ausborgen für eigene Projekte. Für mich ist das Publikum keine Gruppe, die nur passiv rezipiert, sondern aktiv teilnimmt – nicht nur im Museum, auch auf der Straße bei der Parade.
Inwiefern ist das Publikum bei der Parade involviert?
Marinella Senatore: Die Idee, die Teilnehmenden gemeinsam durch die Stadt ziehen zu lassen, ist sehr bewusst gewählt. Sie gehen in einem gewissen Rhythmus, und oft möchten die Zuschauenden sich anschließen. Dabei gleichen sie sich dem Rhythmus an und ändern ihre Bewegung – und erleben dasselbe Gefühl mit. 2018 in Palermo war es absolut verrückt: Mit 700 Teilnehmenden hatten wir schon eine
ziemlich große Prozession. Doch plötzlich sind 90 Prozent des Publikums dazugekommen und statt zweieinhalb dauerte die Parade fünf Stunden. Alle wollten tanzen und sich gemeinsam bewegen, es war unglaublich und ich habe noch nie so eine Energie erlebt. Da fühlst du, dass etwas sehr Wichtiges passiert, was man gar nicht benennen kann!