Krankheit und Kultur

 

Die transkulturelle Psychiatrie verzichtet auf die Unterscheidung von normal und abnormal. Entscheidend ist, wie Leid gelindert werden kann. 

 

von Georg Wimmer

 

Die eigene Kultur lernt jeder Mensch völlig unreflektiert. Wir hinterfragen nicht, warum uns welche Speisen schmecken oder warum bestimmte Gesänge wohltönend klingen – und andere nicht. Wir verknüpfen Wertvorstellungen ganz selbstverständlich mit Begriffen wie Ehre, Ehe oder Eigentum. Wir übernehmen unbewusst Regeln im Umgang miteinander und können diese in allen Feinheiten ausspielen. Genauso wie wir unsere Muttersprache aufsaugen, ohne jemals an ihre Grammatik zu denken. Doch Kultur ist mehr als eine Sammlung von Sitten und Gebräuchen. Kultur ist eine gemeinsame Sichtweise der Welt. Ein Erklärungsrahmen dafür, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Kultur, so der deutsche Psychologe Alexander Thomas (1939–2023) enthält die „Landkarten der Bedeutung“, welche unseren Alltag verstehbar machen. 

Der Schluss liegt nahe, dass die jeweilige Kultur auch bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen eine Rolle spielt. Dennoch ist die abendländische Medizin lange von universellen Krankheitsbildern auch bei psychischen Leiden ausgegangen. Also von der Annahme, dass beispielsweise Depressionen auf der ganzen Welt die gleichen Ursachen haben. Ein früher Verfechter eines solchen universellen Modells war der deutsche Psychiater Emil Kraepeling. Für Krankheitsbilder, die er in Europa beobachtet hatte, suchte Kraepeling Anfang des 20. Jahrhunderts die genauen Entsprechungen auch in fremden Kulturen. Als ihm bei Forschungen auf Java aufgefallen war, dass bei einer Form von Schizophrenie die für ihn „dazugehörenden“ akustischen Halluzinationen kaum auftraten, änderte das nichts an seiner Diagnose. Er erweiterte sie nur. Kraepeling behauptete, akustische Halluzinationen kämen auf Java deshalb seltener vor, weil das Sprachvermögen der „Eingeborenen“ nicht so hoch entwickelt sei wie bei den Europäern.

Die Deutung der Krankheit ist für die Betroffenen zentral

Erst im Jahr 1978 läutete der US-Amerikaner Arthur Kleinmann eine Wende ein, indem er weltweit gültige Modelle für psychische Krankheiten als einen „kategorischen Irrtum“ bezeichnete. Für den Harvard-Professor ist jede psychische Störung im Zusammenhang mit den Ideen und Erfahrungen der jeweiligen Lebenswelt zu sehen. Egal ob jemand an Geister und Dschinns glaubt, an einen konkreten Gott oder an die Kraft von symbolischen Gegenständen. Dieser Ansatz einer transkulturellen Psychiatrie setzt sich mehr und mehr durch. Vorstellungen, die im Westen als nicht normal gelten, stehen somit nicht im Widerspruch beispielsweise zu psychotherapeutischen Methoden, heißt es im gerade erst erschienenen „Handbuch Transkulturelle Psychiatrie“. Nachsatz: Sofern es der Gesundung der Patientinnen und Patienten dient.

Spätestens mit Migration und Fluchtbewegungen ist das Thema Kultur und psychische Erkrankungen in Kliniken und Praxen angekommen. In der Christian-Doppler-Klinik gibt es eine eigene transkulturelle Ambulanz. Der Verein Hiketides bietet in Salzburg schon seit Jahren kultursensible Psychotherapie für traumatisierte Geflüchtete. „Die Deutung der Krankheit ist dabei für die Betroffenen ganz zentral, sie hängt aber stark mit dem jeweiligen Menschenbild zusammen“, erklärt Michael Schreckeis, Psychotherapeut, Analytiker und Mitbegründer des Vereins Hiketides. Einmal sei eine Frau zu ihm gekommen, die erzählte, dass auf dem Dach ihres Wohnhauses ständig drei Vögel sitzen, die sich zwitschernd unterhalten. Sie könne die Unterhaltung der Vögel sogar verstehen. In einer Klinik war bei der gebürtigen Bosnierin zuvor paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Im Zuge der Therapie stellte sich heraus, dass die Frau bei dem Massaker in Srebrenica drei Söhne verloren hatte. 

„In der Einzelfallarbeit geht es sehr viel darum, Deutungen zu finden, damit die Betroffenen mit ihrem Leid besser zurechtkommen“, sagt Schreckeis. Er stellt zwar die Krankheit als Tatsache nicht infrage, hält aber wenig von Diagnosen. Welche Diagnose gestellt werde, sei eher für die Krankenkasse wichtig. Die Gesellschaft, oft auch die Angehörigen, wünscht sich ebenfalls häufig eine genaue Einordnung. Das erweckt den Anschein, dass die Medizin in der Lage ist, psychische Krankheiten nicht nur exakt zu bestimmen, sondern sie auch zu beherrschen. Selbst wenn die Diagnose für die betroffene Person eine dauerhafte Stigmatisierung bedeutet. 

Ob bestimmte Syndrome existieren oder nicht, sei nicht entscheidend, findet auch der Psychiater und Psychotherapeut Thomas Stompe von der Uni-Klinik Wien. Wichtig sei vielmehr, ob man mittels transkultureller Kompetenz zur Bewältigung einer Erkrankung beitragen kann. Stompe stützt sich in seiner Arbeit aber gleichzeitig auf universelle Krankheitsmodelle. Er geht in seinem Buch „Krankheit und Kultur“ davon aus, dass die Annahmen, die in der westlichen Psychiatrie in den letzten 100 Jahren herausgearbeitet wurden, zum Großteil auch in anderen Kulturen gültig sind. Außerdem: Erst universelle Modelle hätten die Entwicklung von Medikamenten oder Therapien möglich gemacht. Nun gehe es darum, universelle Modelle und transkulturelle Ansätze zu verbinden. 

Die eigene Kultur als blinder Fleck

Völlig unklar ist nach wie vor, warum psychische Erkrankungen in verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich häufig auftreten. Welchen Anteil haben dabei kulturelle Faktoren? Welche Rolle spielt die Genetik? Die Wissenschaft interessiert bei Studien über mehrere Länder hinweg außerdem, welche gesellschaftlichen Einflüsse die Menschen etwa vor einer Depression schützen. So könnte eine transkulturelle Psychiatrie auch einen universellen Nutzen bringen. Solche Untersuchungen über mehrere Kulturen hinweg sind aber schwer durchzuführen. Auch deshalb, weil bestimmte Symptome in der einen Kultur gesellschaftlich akzeptiert sind, in der anderen aber ein Tabu darstellen und es vielleicht gar keine Worte dafür gibt. So ergab eine in den 1980er Jahren in China durchgeführte Studie, dass Beschwerden wie Kopfschmerz, Mattigkeit und Schwindel durchwegs auf körperliche Ursachen zurückgeführt wurden. Die Diagnose Depression wurde kaum gestellt. Das lag auch daran, so der Studienautor, dass das Eingeständnis von psychischem Leid in China seit der Kulturrevolution schlecht angesehen war. 

Der Hinweis, dass Depression zur gleichen Zeit auch in Europa stigmatisiert war, unterblieb in der Untersuchung. Was zwei Schlüsse zulässt: Besonderheiten im Verhalten oder Denken fallen uns an fremden Gesellschaften viel leichter auf. Die eigenen kulturellen Muster sind hingegen blinde Flecken, die wir nicht infrage stellen. Und zweitens zeigt dieses Beispiel, wie veränderbar kulturelle Vorstellungen sind. Denn heute sind Depressionen oder Burn-out in Industriegesellschaften kein Grund mehr, sich zu schämen.