Sehnsucht nach Heimat
von Wolf Herzig
Meine Frau hat die Nachbarskinder zum Spielen eingeladen, damit ich in Ruhe arbeiten kann. Tatsächlich ist es gefühlt dreimal so laut wie normalerweise mit einem Kind, dazu kommt das Stimmengewirr zweier Erwachsener, sichtlich ausgehungert nach sozialen Kontakten über dies und jenes plaudernd, die Zeit genießend, bevor uns morgen wieder der Alltag ereilt. Es gibt Kuchen, dazu etwas vom Bäcker, frischen Kaffee – den guten für die Gäste, Spielzeit, Peppa Wutz, Tonie Box, tonnenweise chinesisches Plastikspielzeug, im Kreis laufen, sich stoßen, weinen, lachen, getröstet werden, einmal von Mama oder Papa. Alles von vorn, bis einem die Puste ausgeht und alle selig schlafen gehen. In ihre eigenen Zimmer – die Nachbarn haben ein Haus, wir eine Wohnung mit Garten – wir wünschen uns mehr, aber für den Moment muss es reichen. Künstler sein ist auf eine Art eine Wahl, auf die andere eben nicht, aber Alternativen gibt es, um sich wenigstens aus dem gröbsten Debakel herauszuhalten. Und wenn alle Stricke reißen, bleibt immer noch der Ein-Euro-vierzig-Hamburger und am Sonntag die Pommes dazu. Dann kann man selig unter der Brücke einschlafen und von der nächsten (w)armen Mahlzeit träumen.
Dort trifft man vielleicht Alex, der mir gerade gegenübersitzt, mit seinen Freunden und wird auf Schafkäse mit Tomaten eingeladen, singt ein paar Lieder, deren Hoffnung man nicht fassen kann, und starrt sehnsüchtig auf die beinahe schon reißerische Kulisse der Salzburger Altstadt. Man kann sich nur im Entferntesten vorstellen, wie die Frankfurter Würstel im Hotel Sacher schmecken oder der Cinnamon-Spiced-Pumpkin-Frappuccino-Latte im Starbucks oder das Gefühl, wenn man als Mensch betrachtet wird und nicht als Warnung vor dem Abgrund. „Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit“, „Uns hat auch niemand etwas geschenkt“ kommt mir in den Sinn. Genau da muss ich einhaken, da wird eines gern vergessen: Als Teil dieser Gesellschaft gibt es Anker, Hilfen, Menschen, Infrastruktur, Möglichkeiten. Dort, wo Alex herkommt, gibt es nichts außer Korruption und Jobs als Tagelöhner, wo die Entlohnung in etwa so sicher ist wie ein russisches Handelsabkommen mit der Ukraine. Alex kommt aus Rumänien, einem Land, das während der mäßig glorreichen kommunistischen Hegemonie mit dem Diktator Ceaușescu den schwarzen Peter gezogen hat und danach nahtlos im Sumpf der Korruption und Misswirtschaft ertrank. In so ein Land geboren zu werden, mag ich mir selbst als skandalerprobter Österreicher nicht vorstellen, sogar als mir Alex ein Foto seiner Wohnung – ein Zimmer – zeigt, in der seine Frau, seine beiden Kinder und seine Eltern wohnen. Ein Herd, ein Tisch, Matratzen, zwei kranke Kinder, dazwischen toben Angst und Sorge beschwingt durch die geschätzt zwanzig Quadratmeter. Alexandru-Florin Luca wohnt nicht im zweiten Stock von Suzanne Vega, denn dort befindet sich nur ein löchriges Dach in einem Haus neben Dutzenden anderen alten Häusern in einem zersiedelten Dorf ohne Möglichkeiten.
Ob er Rumänien als Heimat empfinde, habe ich ihn gefragt, er hat geantwortet, dass seine Heimat dort sei, wo seine Familie sei, in diesem Fall Rumänien, ja, aber das Land selbst vermisse er keine Sekunde. Österreich sei Heimat, sagt er, denn es habe ihm so viel mehr gegeben als Rumänien. Sein Job als Straßenzeitungsverkäufer sei weit sicherer als das, was ihn zuhause erwarte. Alex kann weder lesen noch schreiben und ist Angehöriger einer Ethnie, die es in Rumänien noch schwerer hat als die ohnehin schon geplagten Rumänen. Er ist Roma, welcher Gedanke jetzt auftaucht, sei jedem selbst überlassen. Der erste Moment, in dem mein medial beeinflusstes Gehirn mein Bauchgefühl zu überrennen versucht. Ich bemühe mich, dieses Gefühl zu kartografieren und gleich zu archivieren, denn ich habe nicht den geringsten Grund, mich in Alex Gegenwart unwohl zu fühlen. Im Gartenstuhl sitzt ein junger Mann, freundlich und offenherzig, fast schon vertraut, an seinem Kaffee nippend und geduldig auf die nächste Frage wartend. Was er ändern würde in Rumänien, will ich wissen, und bekomme ein Lachen als Antwort. Das System, sagt er. Damit die Leute eine Chance hätten. Er wolle arbeiten, doch dort gebe es nichts und hier nehme ihn niemand, weil er Analphabet sei. Er sei dankbar für den Job als Straßenzeitungsverkäufer, dankbar dafür, dass er in Österreich bleiben könne, dass die Österreicher:innen so großzügig und freundlich seien. Mich interessiert, was er hier ändern will, aber er weiß nicht, was ich meine. Seine Familie hätte er gern hier, in Österreich hätte er gern eine Heimat, er sei jung, er wolle arbeiten. Eine „echte
Chance“ sagt er nicht, aber an seiner Stelle würde ich genau das wollen. Mich fröstelt, ich muss an meine Frau denken, an meinen Sohn, wie knapp wir oft finanziell aufgestellt sind, ob ich die Heimat verlassen könnte, um woanders als Obdachloser im Sommer wie im Winter Zeitungen zu verkaufen, aber allein die Frage lässt mich heuchlerisch dastehen. Ich habe noch nie gehungert, war nie obdachlos und habe einen Hochschulabschluss. Wie könnte ich solch eine Situation nachempfinden? Durch mathematische Empathie, Hochrechnungen, denke ich, aber selbst das will nicht funktionieren. Erst gestern habe ich hundertsechzig Euro für Kinderbedarf ausgegeben, und das war erst der Monatsanfang. Das Kind nicht richtig versorgen zu können, nichts tun zu können, um die Situation zu verbessern, lässt mich zeitgleich mit der schwindenden Sonne im Innenhof des Hotels Auersperg frösteln. Ob es etwas gebe, das ich schreiben solle, frage ich. Alex bedankt sich für das Interview, für die Möglichkeit, gehört zu werden, und fügt hinzu, dass er dankbar sei für jede Hilfe. Erst jetzt merke ich, wie demütig er ist. Keine direkten Bitten, nicht zu viel verlangen, dankbar sein für das, was ist. Gott würde schon auf ihn aufpassen, hat er mir mehr als nur einmal gesagt. Lange danach frage ich mich, warum gerade ihn der Glaube nicht verlassen hat, denn in meinem Verständnis hätte er genug Gründe dafür. Nicht nur während meiner Autofahrt nach Niederösterreich in unsere warme Wohnung, wo ich mir am Weg eine warme Mahlzeit gönne, die deutlich mehr als einen Euro vierzig kostet, mir aber trotzdem schwer im Magen liegt