Das Eis seiner Kindheit
Gespräch mit Apropos-Verkäufer Eduard Binder
von Robert Kleindienst
„Kein Kind kann entscheiden, im Krieg oder Frieden geboren zu werden, denn der Krieg hat längere Arme“, heißt es zu Beginn meines aktuellen Romans. Das Lied davon, in dem die Kindheit meines Vaters – eines musikbegeisterten Pflegekindes aus dem Oberinntal – zur Sprache gebracht wird.
Der Krieg war bereits zu Ende, als mein Gesprächspartner Edi Binder 1947 im niederösterreichischen Hainfeld zur Welt kam, einer der im Zweiten Weltkrieg am schlimmsten zerstörten Städte Österreichs, zuerst durch Bomben, dann durch SS-Truppen, die auf ihrem Rückzug in fanatischer Befehlshörigkeit ganze Häuserreihen in Brand setzten. Hier wuchs Edi auf, hier hatte er groß zu werden, und die Klauen des Krieges hatten auch in seinem Leben tiefe Spuren hinterlassen: die Mutter zweimal ausgebombt und dabei schwer verletzt, ihr erstes Kind, Edis Bruder, den er nie kennenlernen durfte, bei einem der Angriffe tödlich verwundet.
In einer kleinen Kellerwohnung fand die Familie ihre neue Bleibe, die Mutter, Edi und sein zweiter, charakterlich völlig konträrer Bruder, drei Leute auf engstem Raum, Tageslicht nur durch ein Fenster neben der Tür. Mit Petroleumlampe und Kerzen vom Pfarrer, bei dem die Mutter dann und wann ihre Arbeit verrichtet und in dessen Garten die Kinder manchmal Äpfel geklaubt hatten – immer in Acht vor des Pfarrers Argusaugen –, habe man zumindest ein wenig Licht in das dunkle Loch gebracht.
Zur wärmeren Jahreszeit war es noch auszuhalten gewesen in der Wohnung, doch an kalten Wintertagen habe sich eine bis zu 20 Zentimeter dicke Eisschicht an den Wänden der Steinmauer gebildet, die einen das Frieren lehrte. Das Holz, das man im Sommer oft über Stunden im Wald gesammelt hatte, habe nie gereicht für wohlige Wärme, das wenige Essen nicht, um den Bauch satt zu bekommen. Auch die Mutter, aufgrund ihrer Verletzungen arbeitsunfähig und als Sozialhilfeempfängerin zu Hause bei den Kindern lebend, konnte die fehlende Wärme nicht ersetzen, wie Edi leise anmerkt. Sie war da für ihn und seinen Bruder, tat, was notwendig war, aber nicht mehr.
Erst viel später, Anfang der 1960er Jahre, sollte die Familie in eine bessere, hellere, beheizte Wohnung übersiedeln, Holz und Briketts fortan von der Gemeinde zur Verfügung gestellt.
Es war die Kälte früherer Zeiten gewesen, durch die sich Edi im Alter von fünf Jahren eine beidseitige Lungen- und Rippenfellentzündung zugezogen hatte. Im Spital von Lilienfeld habe er mit dem Tod gerungen, fast täglich vom Hausarzt besucht, später, schon 14-jährig, stand er ein zweites Mal mit derselben Krankheit an der Schwelle des Todes. Einen anderen gesundheitlichen Einschnitt in seinem Leben gab es im Alter von 15 Jahren, als ein Zeckenstich eine Gehirnhautentzündung auslöste und ihn in Folge vorübergehend sein Gedächtnis im Stich ließ.
Sein Körper sei wohl von Anfang an zu schwach gewesen für Widrigkeiten einer Welt, in der ihn die Nachbarkinder verspottet hatten wegen seiner schwächlichen Konstitution, ihn auslachten, anstatt zu verstehen. Zumindest von Russen, in Niederösterreich als Besatzungsmacht stationiert, habe es dann und wann kleine Hilfen gegeben, Medikamente oder Zigaretten, welche die Kinder für ein paar Groschen weiterverkaufen konnten. Überhaupt seien die Russen recht nett zu ihm gewesen, erzählt Edi, nur die Frauen und Mädchen, die hätten sich vor ihnen in Acht nehmen müssen. Aber letzten Endes habe man sich selbst helfen müssen, um zu leben, zu überleben.
Und wo war in all diesem Durcheinander der Vater geblieben? Edi weiß nicht viel von ihm, erzählt er unaufgeregt, ohne jeden Groll. Seine Mutter habe ihn nicht beim Amt angegeben, er habe keine Alimente gezahlt, war wohl Wirt im Waldviertel und seinen Söhnen nie unter die Augen getreten. Nur ein einziges Mal, meint Edi mit nun doch spürbarer Regung, habe er bei einem Spaziergang einen Mann am Feldweg gesehen, von dem er schwören könnte, dass es sein Vater gewesen war.
War es für meinen Vater die Musik, ohne die sein Leben ein anderes geworden wäre, hatte sie für Edi keine große Bedeutung in seinem Leben. Gefragt nach seiner musikalischen Prägung als Kind meint er, die Kuh des Nachbarn wäre eingegangen, wenn er nicht gesungen hätte. Sagt es ganz trocken, bevor er nach einem Moment des Zuwartens seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzieht.
Was denn die schönste Erinnerung an seine Kindheit sei? Der Geruch nach Anis, erklärt Edi nach einigem Überlegen. Alle Jahre wieder habe er mit seiner Mutter zu Weihnachten die nur wenige Kilometer entfernt wohnende Tante besucht, die so wunderbar duftende Aniskekse buk, dass Edi noch immer den Geruch in seiner Nase hat, wenn er daran denkt.
„Alles fließt“, heißt es in meinem Roman Das Lied davon, „nur den Fluss gilt es erst zu verstehen.“ Edis größter Wunsch führt dorthin, wo fast alle Flüsse enden: ans Meer. Einmal in den Süden zu fahren, an die Adria, davon träume er schon lange. Aber weiter als bis nach Kärnten habe er es bisher noch nicht geschafft. Und so wünsche ich dir, lieber Edi, dass du irgendwann doch noch am Strand stehen und aufs glitzernde Spiel der Wellen blicken kannst, die dir vielleicht Geschichten zutragen von Höhen und Tiefen, denen du dich anvertrauen kannst mit deinen ganz eigenen Geschichten, Wort für Wort.