Das Wünschen verlernt

 

Ruschullina ist das weiße Mädchen, das den Wald belaubt und die Obstbäume blühend macht. Der Knabe Iuon sehnt sich nach ihr, seit ihm der Vater versprochen hat, sie ihm zu bringen, sobald er groß ist. Erst nach diesem Versprechen hört der Knabe auf zu weinen. Denn ohne Unterlass hatte er geweint, obwohl von Geburt an schön und gesund. Aber als er herangewachsen war, hat der Vater sein Versprechen vergessen. Iuon verfällt in große Trauer und sagt, dass er lieber sterben will, als ohne das weiße Mädchen zu leben.

von Karin Peschka

So beginnt das rumänische Märchen Ruschullina. Die fantastische Geschichte eines Sohnes, der auszieht, um sein Glück zu finden, dabei dem heiligen Samstag begegnet, der zwanzig Bienen besitzt, die in zwanzig verschiedenen Ländern herumfliegen, und dem heiligen Sonntag, dem dreißig Bienen gehören, und neunundzwanzig davon haben noch nie etwas vom weißen Mädchen gesehen. Erst die dreißigste weiß, wo Ruschullina zu finden ist.

Bei meinem Gespräch mit Mihai Usurela geht es nur in einer Nebenfrage um Märchen. Mihai verkauft die Straßenzeitung Apropos, ich wurde eingeladen, ihn zu treffen und darüber zu schreiben. Wir sitzen in der schicken Lobby eines Hotels und fühlen uns vielleicht beide ein wenig fehl am Platz. 

Mihai ist ein freundlicher, stets lächelnder Mann, nur selten wird seine Miene ernst. Oft lacht er ein leises Lachen. Er versteht mich gut, meint Doris, die seine Antworten übersetzt und mit ihrer netten Art unsere Befangenheit mindert. 

Doris weiß viel über Land und Leute, kann selbst von ihrer Kindheit in Rumänien berichten, von den Schweinen, die im Winter geschlachtet wurden, eingebraten und in Schmalz konserviert. Im Sommer sei das ein schnelles Essen gewesen nach der Feldarbeit.

Auch Mihai erzählt, dass seine Familie in Rumänien Schweine gehalten und vor Weihnachten geschlachtet habe. Er war fortgegangen, um Geld zu verdienen, Mariana, seine Frau, habe sich um die Söhne und die Tochter gekümmert. Auch, und dafür sei er ihr dankbar, um deren Erziehung, in die er sich nie eingemischt habe. Wie auch, aus der Distanz. Seit einigen Jahren lebt er nun in Salzburg, mit seiner Frau und zweien seiner bereits erwachsenen Kinder. Er stammt aus der Umgebung Pitești, wo das Dacia-Werk ist, etwa 130 Kilometer nordwestlich von Bukarest entfernt, dort sind die anderen Kinder, die Enkelkinder und seine Mutter, der Vater ist vor zwanzig Jahren gestorben. 

Seine in Rumänien gebliebenen Söhne haben keine fixe Stelle, sie arbeiten als Tagelöhner, wo immer sie Arbeit finden, auf einer Baustelle, in einer Fabrik oder bei einem Bauern.

Aus der Armut herauszukommen ist überall schwer, in manchen Ländern noch schwerer als anderswo. Wir sprechen über Korruption, über Chancen, über die Abwanderung jener, die ein Studium absolviert haben. Die medizinische Versorgung, sagt Mihai und Doris bestätigt, sei daheim nicht gut, vor allem für jene, die ohnehin wenig haben und schon gar keine Beziehungen. Die Verwandtschaft bringt Essen ins Krankenhaus, bringt eigene Bettwäsche. 

Mihai hatte Probleme mit seiner Gesundheit. Er ist froh, dass er hier, in Österreich, behandelt wurde. 2015 oder 2016 war er zum ersten Mal in dieses Land gekommen, davor war er in Frankreich. Die Sprache ist überall ein Hindernis. Wien war nicht seine erste Wahl gewesen, er ist in den Zug gestiegen, sagt er, und ein Stück weitergefahren. In Salzburg haben sie eine Wohnung, er ist hier gemeldet. 

Und die Sehnsucht nach der Heimat? Die gibt es, aber sie gilt nicht dem Land. Ein-, zweimal im Jahr für ein, zwei Wochen bei der Familie sein, bei den Enkelkindern, dann ist es wieder gut und genug. 

Was kostet der Weg, frage ich. Viel. Eineinhalbtausend Kilometer, die Fahrt mit dem Auto dauert zwölf bis dreizehn Stunden. An rumänisch-orthodoxen Feiertagen kann es sein, dass du die Feiertage im Stau verbringst, dass du nicht rechtzeitig ankommst. Die Rumänen kommen aus Italien. Sie kommen aus Spanien. Sie kommen von hier. 

(Sie sind wie die Bienen des heiligen Samstags und des heiligen Sonntags, die in alle Länder schwärmen. Daran denke ich jetzt, im Wissen um das Märchen und in Erinnerung an unser Gespräch.)

Mihai, sind die Menschen hier gut zu dir? Wie gehen die Einheimischen mit dir um, bist du von Rassismus betroffen? Größtenteils seien sie sehr freundlich, sagt er. Spricht von Einzelfällen, die manchmal aufdrehen. Aber, so, wie man in den Wald hineinruft, so werde man behandelt. 

Mihai, was wünschst du dir für deine Enkelkinder? Sein Lachen nimmt eine andere Farbe an. Er antwortet, dass man verlernt, sich etwas zu wünschen, wenn man weiß, dass es ohnehin nicht in Erfüllung gehen wird. Dieser Satz drängt sich in Herz und Hirn.

Ich frage nach Geschichten, die den Kindern erzählt werden. Gibt es ein Märchen, das du selbst besonders gern gehört hast? Mihai schüttelt den Kopf, es fällt ihm keines ein. Dafür war keine Zeit, sagt er. Dass sie zu müde waren, um am Abend noch etwas zu erzählen. Und dass man, wenn man nicht in Rumänien und bei den Enkelkindern ist, das kaum beeinflussen könne. 

Mihai lächelt, lacht, sitzt vorgebeugt, die Hände ineinander verschränkt. Wir unterhalten uns noch eine Weile, einander zugewandt. Dann verabschieden wir uns in unsere entgegengesetzten Welten, von denen die meine eine Illusion ist, denke ich, eine Seifenblase mit schillernder Haut. 

Iuon aber zieht aus und findet das weiße Mädchen. Hütet in deren Schloss die Gänse, rettet die Jungen eines Adlers vor einem dreiköpfigen Drachen, den er erschlägt, flieht mit Ruschullina auf dem Füllen (Fohlen) der alten Frau im Meer vor dem Smeu, dem fliegenden Teufel, bis der zu Staub zerfällt.