Kleine Freuden
Valerica und Luminița erwarten mich schon. Was sie verbindet: Beide sind Straßenzeitungsverkäufer:innen bei Apropos. Beide befinden sich in Lebensumständen, die prekär zu nennen geradezu zynisch wäre. Was sie trennt: nicht viel. Eine Armlehne, ein Sitzpolster. Und auch mir gehen sie im Laufe des Gesprächs immer näher.
von Jakob Klein
Montagnachmittag. Valerica, seine Frau Luminița – selbst auch Straßenzeitungsverkäuferin – und ich sitzen im Innenhof eines Hotels im Stadtteil Schallmoos. Wir warten noch auf die Fotografin und den Dolmetscher. Um die Zeit zu überbrücken, holt Valerica sein Handy heraus und zeigt mir ein paar Bilder von daheim: seine jüngsten Enkel Alexandru (4) und Melisa (1). Ein Holzhäuschen auf Pfahlbauten, ihr Zuhause. Dann sein ältester Sohn, auch Alexandru (21), blutüberströmt. Was ist da los? Valerica wird es mir später erzählen.
Jetzt treffen auch Fotografin und Dolmetscher ein. Bei der Fotosession fällt es Valerica sichtlich schwer, ein ungezwungenes Lächeln aufzusetzen. Als er Luminița umarmt, geht es besser. Neben uns verlässt ein älteres Ehepaar empört seinen Tisch.
Endlich kann das Gespräch beginnen. Valerica, ein rumänischer Mann mittleren Alters, trauriges Gesicht, das manchmal zu einem verschmitzten Lächeln anhebt. Luminița sitzt schweigsam daneben, nippt nur manchmal an ihrem Fruchtsaft.
Wie sein Alltag aussieht, möchte ich von Valerica wissen. Nun, auf den ersten Blick nicht anders als der Alltag von vielen von uns. Um sieben geht es los. Von acht bis fünf verkauft er Zeitungen. Am Abend noch duschen, telefonieren und dann schlafen.
Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass der Vergleich hinkt. Denn Schlafen bedeutet für Valerica mit zig anderen unter der Bahnbrücke kauern. Beim Essen ist er auf Spenden von Privatpersonen und einer Supermarktkette angewiesen. Den Rest spart er sich, wie der Dolmetscher mir wörtlich übersetzt, „vom Mund ab“.
An diesem Tag hat Valerica erst zwei Zeitungen verkauft. Ein schlechter Tag. An einem guten verkauft er zwischen sechs und zehn. Pro Tag bleiben ihm damit zwischen drei und fünfzehn Euro. Die schickt er alle zwei bis drei Wochen heim nach Rumänien. Selbst behält er fast nichts.
Zuhause, wo ist das eigentlich? Wir kommen auf das Foto mit den Pfahlbauten zurück. In so einem Haus lebt Valericas Familie. Zwölf Menschen, Frau, Eltern, Kinder und Enkel, die zusammengepfercht in dem vom Vater erbauten Häuschen in einem Morastgebiet zwischen Pitești und Bukarest leben. Das feuchte Unterholz ist Nährboden für Krankheiten und die Vermorschung der Holzpfähle.
Hier beginnt Valerica von seinen Sorgen zu erzählen. Die älteste Tochter müsse nach zwei Kaiserschnitten mit Komplikationen operiert werden. Das Geld dafür fehlt. Später wird Alexandru anrufen, der gerade am Heimweg vom Spital ist. Alexandru, der selbst vor kurzer Zeit beim Einkaufen von einem Betrunkenen krankenhausreif geschlagen wurde. Zumindest: Die Untersuchung seiner Schwester ist gut verlaufen. Alexandru verabschiedet sich …
In etwa einem Monat wird Valerica seine Sachen am Bahnhof in ein Schließfach sperren und den Bus nach Bukarest besteigen. Das letzte Mal war er im April daheim. Den Weg zwischen Rumänien und Österreich fährt er nun schon seit zehn Jahren. Damals habe einer aus der Gegend ganze dreitausend Euro zusammengebettelt. Das wollte Valerica auch.
Die Bettlerzeit war hart für ihn. Als er in einer Kantine angesprochen wurde, ob er nicht für einen Diakon im Garten arbeiten will, sagte er sofort zu. Hier lacht Valerica zum ersten Mal, als er erzählt, wie er dem Diakon das Ziegenmelken beigebracht hat.
Er lacht auch, weil es ihn an seine Kindheit erinnert. Der Vater, der Ziegenhirte war, hat damals mit eigenen Händen das Haus gebaut, in dem die Familie noch heute lebt. Er hatte wenig Bildung und zwölf Kinder zu versorgen, eines davon der kleine Valerica. Heute sprechen die Geschwister nicht mehr miteinander. Es geht um Geld, auch familiäre Gewalt spielt eine Rolle. Die Eltern leben mit einer Pension von etwa achtzig Euro bei ihm. Noch sind sie gesund, nur die Feuchtigkeit setzt ihnen zu.
Dafür, dass er nach seiner Arbeit bei dem Diakon den Apropos-Ausweis bekam, ist Valerica heute noch unendlich dankbar. Es gibt ihm die Möglichkeit, zumindest ein bisschen Geld zu verdienen. Für die großen Träume reicht es nicht – ein Führerschein für Alexandru, ein Haus aus Ziegeln. Aber um über die Runden zu kommen, reicht es immer irgendwie.
Zum Schluss frage ich Valerica, was er sich von den Leuten hier wünsche. Da muss er überlegen. Dann sagt er, sonst redselig, nur einen Satz. Der Dolmetscher übersetzt: „Dass sie freigiebig sind.“
Er fügt noch hinzu, dass er sich hier im Großen und Ganzen gut behandelt fühle. „Aber wenn ich genug Geld hätte, würde ich nicht wiederkommen.“ Das lassen wir so stehen. Erst jetzt fällt uns auf, dass Luminița noch nichts gesagt hat. Das sei in Ordnung so. Ein wenig schüchtern trinkt sie den letzten Schluck Fruchtsaft.
Der Dolmetscher geht zuerst. Dann verabschieden sich auch Valerica und Luminița. Ich verweile noch, um die Rechnung zu bezahlen – und frage mich, was bleibt. Wieso die Kette der Armut nie durchbrochen werden kann. Der Dolmetscher, selbst Rumänienkenner, hatte mir noch ein paar Denkanstöße mitgegeben. Die Marginalisierung der Roma und Sinti, frühe Heirat, geringe Bildung. Auch über die Schließung der Dacia-Werke und den Wegfall Hunderter Arbeitsplätze müsste man reden. Aber das bleibt nicht. Was bleibt, ist der traurige Valerica und die schweigsame Luminița. Und der Boden Fruchtsaft im Glas, auf dem eine Wespe kriecht – die kleinen Freuden des Lebens.