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25 Kinder in 14 Jahren
von Eva Daspelgruber
Unzählige Bilderrahmen zieren die Vorzimmerwand der Wohnung von Roswitha und Wolfgang. Unsere Autorin hat das Salzburger Ehepaar besucht, das als Krisenpflegeeltern seit vielen Jahren Kinder vorübergehend betreut. In dieser Zeit, in der über die weitere Zukunft der jungen Menschen entschieden wird, bekommen sie hier liebevolle Zuwendung, bevor sie ihr „Urlaubsdomizil“ wieder verlassen.
„Das sind alles unsere Kinder“, lacht Roswitha, als ich vor den eingerahmten Fotos mit vielen fröhlichen Gesichtern stehen bleibe, und führt mich in die gemütliche Küche der geräumigen Wohnung. Dort wartet schon ihr Mann Wolfgang und die beiden beginnen gleich zu erzählen.
Begonnen hatte alles damit, dass sie einen großen Kinderwunsch hegten. Dieser ging erst nach einer In-vitro-Fertilisation, der „künstlichen Befruchtung“, in Erfüllung. Überglücklich über die Geburt ihres Sohnes wussten sie schon bald, dass er kein Einzelkind bleiben sollte. Da sie nun Eltern waren, kamen sie für eine Adoption eher nicht infrage. Sie stießen auf einen spannenden Bericht über Pflegekinder und entschieden sich nach reiflicher Überlegung für eine Ausbildung als Dauerpflegeeltern. Und sie beschlossen, gleich das erste Kind, das ihnen vermittelt wurde, dauerhaft bei sich aufzunehmen.
Schon wenige Monate nach Kursende hielten sie einen drei Monate alten Buben in ihren Armen, der einen schwierigen Start in die Welt hatte und eine Familie brauchte, die sich liebevoll um ihn kümmerte. Roswitha ging als frischgebackene Pflegemama in Karenz. Der Kleine hatte die ersten Lebenswochen mit wechselnden Bezugspersonen in einem Mutter-Kind-Heim verbracht und brauchte einige Monate, um sich so richtig wohl bei ihnen zu fühlen, erzählt Roswitha.
In dieser Zeit keimte bei ihr der Gedanke auf, dass sie gerne in der Krisenpflege tätig sein möchte, um Neugeborenen gleich ab der Geburt gemeinsam mit ihrem Mann als alleinige Bezugspersonen zur Seite zu stehen und sie in dieser wichtigen Zeit viel Liebe und Geborgenheit erfahren zu lassen. Für eine solch weitreichende Entscheidung musste allerdings die ganze Familie „ins Boot“.
Roswitha kündigte ihren Bürojob und bald zog das erste Baby ein, das für eine Adoption vorgesehen war und vorübergehend ein Zuhause brauchte. Roswitha holte es aus dem Krankenhaus ab und übergab es nach drei Monaten einer Adoptivfamilie. Die Umgewöhnung von einem auf den anderen Haushalt erfolgte schrittweise über zwei Wochen, um das Kind sanft mit der neuen Familie vertraut zu machen.
Über die Jahre zogen immer wieder Babys ein und aus. Aber auch ältere Kinder machten schon „Urlaub“ in der Familie. Da waren die beiden Söhne zum ersten Mal eifersüchtig, was bei den Babys nie der Fall war, erinnert sich Wolfgang und ergänzt, dass ihm wichtig war, dass seine Jungs mitbekommen, dass nicht alles „rosa“ ist auf dieser Welt, dass es Menschen gibt, die keinen guten Start hatten, und dass man denen helfen soll. Auch Besuchskontakte mit der Herkunftsfamilie gehören zum Job von Krisenpflegeeltern, ergänzt das Ehepaar und verweist auf die gute Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe Salzburg.
Ob es nicht schwer wäre, ein Kind wieder wegzugeben, möchte ich wissen. Nein, antworten beide einstimmig und überzeugt. Das Loslassen ist nicht schwierig, denn sie hätten allen Kindern eine gute Zeit – eine Art Urlaub – geschenkt, die sie für immer in ihren Herzen tragen. Die Kinder kamen meist zu Pflege- oder Adoptivfamilien, selten kehrten sie in ihre Ursprungsfamilien zurück.
Zum Abschied bekommt jedes Kind ein Fotoalbum. Das Gestalten eines solchen Albums ist für Roswitha eine Art Abschiedsritual, mit dem sie einen „Fall“ abschließt. Einmal wollte die neue Familie das Abschiedsgeschenk nicht, meldete sich aber nach vier Jahren, weil das Kind wissen wollte, wo es die ersten Lebensmonate verbracht hatte. Es kam dann zu einem Wiedersehen mit vielen Fragen und schönen Momenten.
In Salzburg gibt es neben Roswitha und Wolfgang nur noch ein weiteres Elternpaar für die Krisenpflege. Viele Menschen schreckt an dieser Tätigkeit die Spontanität ab, denn Krisen richten sich nicht nach einem Terminkalender. So sind in der Familie schon Konzertkarten verfallen, weil sie ein Anruf erreichte. Sie sollten ein Kind aus dem Krankenhaus abholen, hieß es, und ein paar Stunden später hielten sie ein Neugeborenes in ihren Armen, statt im Konzertsaal den Klängen eines Orchesters zu lauschen.
Die mangelnde Planbarkeit hat auch schon einmal dazu geführt, dass kurz vor dem Familienurlaub in Italien ein Baby aufgenommen wurde. „Wir mussten schnell Reisedokumente organisieren, denn schließlich wollten wir nicht als Entführer festgenommen werden“, schmunzelt Wolfgang. Das Neugeborene verbrachte dann seine ersten Lebenswochen am Strand – umsorgt von allen Familienmitgliedern.
Die Familie hat mittlerweile schon einen großen Vorrat an Babykleidung in allen Größen am Dachboden – inklusive zweier Kinderwagen und eines Autositzes. Ob sie in der Vergangenheit schon einmal einen Fall abgelehnt hätten, will ich wissen. „Ich habe einen Sprachfehler und kann nicht ‚Nein‘ sagen“, verrät Roswitha augenzwinkernd.
Wie es finanziell aussehen würde, frage ich neugierig. Geld verdienen könne man nicht wirklich, stellt Wolfgang fest. Es ist im Grunde soziales Engagement, eine Berufung. „Wir haben viele erste Lächeln bekommen. Das ist unsere Belohnung. Das kann man nicht mit Geld aufwiegen“, meint Roswitha dazu.
Während unseres Gesprächs kommt das „erste Baby“ nach Hause. Der mittlerweile 14-Jährige ist gekommen, um zu bleiben. Ich bin sicher, dass er mit dieser Familie einen „Lottosechser“ gemacht hat – oder mehr als das.