
„Ich bin ein ausgewachsener Tiger, kein Tigerkätzchen“
Sie hat Jus, Soziologie und Theologie studiert, mehrere Psychotherapie-Ausbildungen absolviert, knapp siebzig Bücher veröffentlicht, ihr eigenes Institut gegründet, zu unzähligen Themen gelehrt und neue pädagogische Methoden erfunden. Vielen ist sie als Pionierin für Frauenrechte in Erinnerung, die Tabuthemen wie Abtreibung und Sexualität offen angesprochen hat.
In ihrer Autobiografie „Niemandsweib“ schildert Rotraud A. Perner, wie sie ihr multidisziplinäres Fachwissen bis heute in Politik, Bildung und Medien einbringt – und gegen welche Widerstände sie sich von Beginn an durchzusetzen hatte. Warum sie mit 80 Jahren noch lange nicht ans Aufhören denkt, erzählt sie im Apropos-Titelinterview.
Titelinterview mit Rotraud A. Perner
von Monika Pink
Sie haben Ihr ganzes Leben gegen Widerstände gekämpft – privat wie beruflich. Was waren das für Widerstände und woher kamen sie?
Rotraud A. Perner: Ich war und bin sicher mit vielen meiner Ideen der Zeit weit voraus. Dass ich viel zu unorthodox wäre, habe ich zu hören bekommen, oder: „Du bist zu risikofreudig, wir können dich nicht einschätzen.“ Ich bin tatsächlich unangenehm ethisch. Ich bin keine Moralistin im Sinne von Moralkeule oder so, aber ich habe eine ethische Position und zu der stehe ich.
Glauben Sie, dass das auch daran lag, dass Sie sich mit Tabuthemen beschäftigten – Abtreibung, Sexualität, Frauenrechte, dass Sie so oft zur Zielscheibe wurden?
Rotraud A. Perner: Ich denke, ja. Jeder Psychoanalytiker weiß: Wenn etwas in Bewegung kommt, fängt sofort der Widerstand an. Das ist rein physikalisch. Ich bin ein Pusher. Alle meine Themen haben mit Machtmissbrauch und Gewalt zu tun – und mit der Suche, wie man anders miteinander umgehen kann. Manche fühlen sich selbst infrage gestellt, nur weil man einen anderen Weg sucht. Das verstehe ich auch und versuche, nett zu sein. Aber wenn mir etwas wichtig ist, dann bin ich schon sehr straight.
Lag es auch daran, dass Sie sich als Frau in einer Männerwelt beweisen mussten?
Rotraud A. Perner: Mit Sicherheit. Der Großteil der Leute erwartet, dass eine Frau ein Tigerkätzchen ist. Und sobald eine Frau Krallen zeigt oder knurrt, kriegt sie Widerstand, weil sie sich vom weiblichen Rollenbild entfernt. Wenn ich erlebe, dass einer anderen Frau so etwas passiert, bin ich schon an deren Seite, das dulde ich nicht. Ich sage immer: Ein ausgewachsener Tiger ist kein Tigerkätzchen. Mit achtzig Jahren bin ich ein ausgewachsener Tiger, ich habe viel Kraft. Mit zwanzig war ich noch ein Tigerkätzchen.
Das heißt, Sie haben selber auch ganz viel Widerstand geleistet?
Rotraud A. Perner: Widerstand ist ein Wort, das eigentlich nur bedeutet, dass man sich nicht unreflektiert unterwirft. Und unreflektiert heißt in dem Fall, dass ich zumindest die innere Stimme habe, die mir sagt: Das will ich jetzt oder das will ich nicht. Ich denke selbst, ich lasse nicht für mich denken. Und ich will nicht manipuliert werden. Ich versuche, Widerstand verbal zu leisten, ohne auf die Kampfebene zu gehen.
Was meinen Sie damit – auf die Kampfebene gehen?
Rotraud A. Perner: Wenn ich zum Beispiel sage: „Das finde ich nicht richtig“, dann heißt das nicht: „Du bist falsch.“ Aber die Leute kapieren nicht, dass das eine subjektive Aussage ist. Denn ich bin in meinem Revier und passe unheimlich auf, dass ich nicht ins Revier der anderen komme. Das ist nicht mein Ziel. Ich will nicht verbal kämpfen und siegen. Aber ich bleibe bei meinem Standpunkt. Und das wird oft mit der Kampfebene beantwortet, weil die Leute derzeit nicht aushalten, dass irgendjemand eine andere Sichtweise hat.
Da ist besonders viel Resilienz gefragt. Was hat Sie so widerstandsfähig gemacht?
Rotraud A. Perner: Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Ich denke, Selbstbestimmung ist ein ganz, ganz wichtiger Gesundheitsfaktor. Und rückwirkend kann ich sagen, dass sich in jeder meiner Ausbildungen etwas für mich verändert hat, am meisten durch die NLP-Ausbildung, die aus meiner Sicht effizienteste Therapietechnik.
In Ihrer Autobiografie gehen Sie darauf ein, was Resilienz für Sie ausmacht. Unter anderem Geduld und Zuversicht. Nicht nachgeben.
Rotraud A. Perner: Ja, auch Standfestigkeit gehört für mich dazu. Wie bleibe ich auf meinem Standpunkt? Das kann man durchaus bildlich sehen: Wenn ich aggressiv nach vorne gehe, verlasse ich ihn. Wenn ich mich resigniert zurückziehe, ebenso. Natürlich muss ich überprüfen, ob ich meinen Standpunkt korrigieren muss. Und wenn ich ihn korrigieren muss, dann mache ich eine seitliche Arabeske. Ich gehe aus der Schusslinie, aber bin noch immer da und hab noch immer meinen Standpunkt. Der ist nur seitlich verrückt.
Wie können wir unsere Widerstandsfähigkeit noch stärken?
Rotraud A. Perner: Auf der körperlichen Ebene ist das Aufrichten und Durchatmen sehr wichtig. Dazu schreibe ich gerade mein 67. Buch, es heißt „Mach dir Luft. Über die Heilkraft des Atems“. Das ist keine Anleitung, wie man atmen soll, sondern es soll die Leute anregen, auf den fremden, aber auch den eigenen Atemrhythmus zu achten. Denn wenn ich mich aufrege, atme ich anders, die meisten Leute werden angesteckt durch diese Energie und dann sind wir schon mitten im Kampfmodus. Wir verkörpern alles, was wir tun, unser Körper ist wie ein Musikinstrument.
Sie vertreten also eine sehr ganzheitliche Sicht …?
Rotraud A. Perner: Ja, und das ist auch eine Frage der Offenheit. So war ich als Juristin nicht. So bin ich erst als Psychotherapeutin geworden. Aus meiner Sicht muss man nur die vier Dinge zusammenbringen: den Körper, die Seele, die Intuition und am Schluss kommt dann die Kognition. Die fasst alles zusammen und dann bin ich der ganze Mensch.
Was hat die Juristin da von der Psychotherapeutin lernen dürfen?
Rotraud A. Perner: So wie ich sozialisiert wurde und auch als Juristin gearbeitet habe, war alles sehr strukturiert und total hirnlastig, also: Was ist dein Ziel und mit welchen Schritten erreichst du es? Durch meine Psychotherapie-Ausbildungen und die Arbeit mit Klient:innen habe ich erkannt: Ich muss auf das Gefühl kommen, weil dort ist die Lösung. In dem Moment, wo Personen im Gefühl sein dürfen – was nicht heißt im Affekt! – öffnen sich unheimlich viele Kanäle. Und dann sind sie auch kreativ und inspiriert.
Sie haben insgesamt zwölf Berufe. Hat Sie auch diese stete Kompetenzerweiterung widerstandsfähiger gemacht?
Rotraud A. Perner: Ich sehe das als Vor- und Nachteil. Für mich ist es unheimlich schwer, in die Tiefe zu arbeiten. Aber mein Vorteil ist, dass ich sozusagen in die Breite denke. In Projekten kann ich alle diese Spezialisierungen in einer Person abdecken, was ja auch Kosten spart. Trotzdem werde ich nicht in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit wahrgenommen und werde immer noch gefragt: „Arbeiten Sie noch in der Sexualpolitik?“ Das erinnert mich an mein Lieblingssprichwort: „Ein Dieb sieht auch bei dem Heiligen nur die Taschen“ und manche Leute sehen bei einer Frau eben nur den Unterleib.
Apropos heilig: Sie haben mit 66 Jahren noch Theologie studiert und sind evangelische Pfarrerin geworden. Warum?
Rotraud A. Perner: Ich bin mit zwei Jahren irrtümlich katholisch getauft worden, aber nie in den Religionsunterricht gegangen, weil ich von meinen Eltern abgemeldet war. Ich habe natürlich Zeiten gehabt, wo ich Religion verachtet und verdammt habe. Und es hat sich anders entwickelt in meinem Leben. Ich habe mir das nicht ausgesucht, es ist passiert. Heute versuche ich, dort, wo ich ein bisschen einen Einblick habe, herauszunehmen, was gesundheitsfördernd und für mich wichtig ist. So wie Paulus in seinem Thessalonicher-Brief schreibt: Prüfet alles und das Gute behaltet.
Von all den Bereichen, in denen Sie tätig sind und waren: Wo glauben Sie, können oder konnten Sie am besten wirken?
Rotraud A. Perner: Die beste oder die effizienteste Wirkung hatte ich immer in Call-in-Sendungen, vor allem im Rundfunk. Wo die Leute nicht abgelenkt sind, sondern nur hören. Und an meiner Stimme dann spüren, wie ich denke. Denn beim Lesen kommt man automatisch ins Phantasieren. Und das Fernsehen ist so schnell und dynamisch, dass man gleich wieder ins Konkurrieren und in die Kampfstimmung kommt. Dort fehlt der Respekt des Zuhörens. Aber Hören ist Aufmachen.
Das fehlende Zuhören wird in so vielen Kontexten bemängelt …
Rotraud A. Perner: Das ist auch die Problematik bei Politikern, die überhaupt nicht zuhören und nur ihres durchbringen wollen, weil alles viel zu schnell ist. Und die Geschwindigkeit heute haben wir durch die elektronischen Medien. Ich habe mir schon früh angewöhnt, langsam und erklärend zu reden. Vielleicht werde ich ja deswegen nicht mehr in Talkshows eingeladen, weil da alles so rasch abgeht, nur im Schlagabtausch. Aber ich pflege bei meinem Denken gleichzeitig zu fühlen. Daher atme ich langsamer und spreche langsamer.
Was würden Sie der Politik empfehlen?
Rotraud A. Perner: Das Wichtigste ist Kommunikation. Ich habe eine Studie über Bürgernähe im Zeitalter der Digitalisierung gemacht, mit einigen Gemeindepolitikern verschiedener Orte in Niederösterreich. Dort, wo die Politiker wirklich mit der Bevölkerung kommunizieren, geht etwas weiter. Wir können heute auf die Ideen der Leute nicht verzichten. Und man muss bei ihrem Frust ansetzen und muss sich wirklich die Zeit nehmen, um Menschen zu fragen: Wie hättest du es denn gern?
Momentan hat man eher den Eindruck, es würde sich alles immer mehr polarisieren …
Rotraud A. Perner: Gehen wir davon aus, dass wir in einer sündigen Welt leben. Wobei: Sünde kommt von „absondern“, das heißt also eine Welt der Gegensätze. Wir nehmen nur wahr aus dem Gegensatz. Wenn es hell gibt, gibt es dunkel. Ich sehe es als Lebensaufgabe und auch als christliche Botschaft, die Gegensätze zusammenzubringen, wieder in eine funktionierende Einheit. Davon sind wir momentan weit entfernt.
Gleichzeitig ist es ja auch wichtig, für Werte einzustehen und nicht alles hinzunehmen. Welche Art der Widerstand ist da aus Ihrer Sicht zielführend?
Rotraud A. Perner: Wir haben ein breites Spektrum, was in der freien Demokratie erlaubt ist. Wenn ich in der Polarität denke, gibt es einerseits den hoch seriösen Widerstand. Da muss ich argumentieren, das ist intellektuell anstrengend. So haben es wir zum Beispiel gemacht, wie es um die Abschaffung der Strafbarkeit der Abtreibung ging. Wir haben gut argumentiert, Unterschriften gesammelt, den Politikern entsprechend präsentiert und sind in die Debatte eingestiegen. Und wir waren erfolgreich.
Und was wäre der andere Pol?
Rotraud A. Perner: Das absolute Gegenteil dazu sind die Spaßguerilla, zum Beispiel Pussy Riot oder Stefanie Sargnagel. Es ist provokant, aber kabarettistisch provokant mit einem ernsten Kern. Aber nicht so hochaggressiv, dass ein Krieg entsteht. Das entspricht auch dem, was ich als Methode „PROvokativpädagogik“ erfunden habe. Sie besagt: Wenn ich ein Kampfangebot bekomme, reagiere ich sehr ernsthaft oder scherzhaft. Es darf nicht böse sein. Das Problem ist, dass heute die Leute so einen Frust haben und wirklich sauer geworden sind. Und wenn man sauer wird, wird man böse.
Sie haben mehrere Bücher verfasst, die zu diesen Themen passen. Was dürfen wir noch aus Ihrer Feder erwarten?
Rotraud A. Perner: Ich habe zum Beispiel ein Buch über Friedenserziehung in der Elementarpädagogik, oder auch die Bücher „Aufrichten“, „Sprechen ohne zu verletzen“ oder „Krisenkompetenz“ geschrieben. Was ich noch behandeln möchte, ist Macht und Machtmissbrauch, die Entwicklung von Mentalitäten und wie Heilung geschieht. Aktuell sinniere ich über Frauenbilder, tiefenpsychologisch, und die Retro-Propaganda.
Was bedeutet das Schreiben für Sie?
Rotraud A. Perner: Ich schreibe alle meine Bücher inspiriert, es schreibt aus mir. Die Themen haben oft mit mir zu tun, man schreibt ja nur über Sachen, die einen selber berühren. Natürlich schreibe ich Bücher auch, damit meine Adressat:innen das Thema interessant finden und wieder auf mich zukommen. Denn auch wenn ich eine Pension beziehe, bin ich nicht in Pension! Ich führe ein Unternehmen mit zwei Instituten, einem Verlag und einer Praxis – und schaffe damit auch Arbeitsplätze. Da gehört ja auch PR dazu.
Welche Projekte möchten Sie noch gern verwirklichen?
Rotraud A. Perner: Bei mir läuft immer mehreres gleichzeitig, das ist sehr komplex, aber ich kann gut komplex denken. Abgesehen von den Buchprojekten bin ich Mitgründerin der Lukasakademie im Stift Zwettl. Der Evangelist Lukas war ja Arzt von Beruf. Wir wollen dort Menschen aus Medizin, Pharmazie, Psychotherapie, Klostermedizin und Spiritualität zusammenbringen. Da ich auch auf Public Health spezialisiert bin, habe ich Lehraufträge für Medizinethik und Gewaltprävention. Und es gibt auch ein fertiges Konzept für eine eigene Fernsehsendung, in der ich aktuelle Geschehnisse aus gesundheitsfördernder Sicht kommentiere.