
„Ich kann mir überlegen, ob ich bei allem mitspiele“
Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz verschwimmen die Grenzen zwischen echten Inhalten und Desinformation zunehmend. Autorin und Online-Expertin Ingrid Brodnig hat sich der Aufklärung digitaler Phänomene verschrieben. Ob wir uns vor künstlicher Intelligenz fürchten müssen, warum Falschnachrichten den öffentlichen Diskurs gefährden und wie wir besser miteinander ins Gespräch kommen, erklärt sie im Apropos-Titelinterview.
Titelinterview mit Ingrid Brodnig
von Julia Herzog
Wann waren Sie bei einem Online-Beitrag zuletzt selbst nicht sicher: Ist das jetzt echt?
Ingrid Brodnig: Ein Moment, in dem ich nicht wusste, ob ein Beitrag echt ist, war, als angeblich der Rowohlt Verlag postete, dass Daniel Kehlmann verstorben ist. Da habe ich gleich gegoogelt, ob das stimmt. Der Account war fake, die Nachricht eine Falschmeldung.
Sie haben für Ihre Kolumne im „Standard“ Ihre eigene Stimme mittels künstlicher Intelligenz geklont. Wenn man Ihre Vorträge kennt, ist es beinahe erschreckend, wie gut die KI Ihre Stimme imitiert. Wie haben Sie das erlebt?
Ingrid Brodnig: Ich war selbst überrascht. Die KI hat einen Text vorgelesen, in dem es hieß, dass das nicht ich bin, die da spricht, sondern die künstliche Intelligenz. Wenn im Text nicht klar geworden wäre, dass hier eine KI spricht, hätte ich es selbst für meine echte Stimme gehalten. Wenn mir dann jemand gesagt hätte, dass es eine alte Aufnahme von mir ist, hätte ich es geglaubt.
KI kann mittlerweile täuschend echte Bilder, Videos und Ton erstellen. Muss man sich vor der Verbreitung künstlicher Intelligenz fürchten?
Ingrid Brodnig: Technisch ist schon unglaublich viel möglich. Wenn ich genügend Audiodateien von einer Person im Internet finde, kann ich deren Stimme nachmachen. Gerade bei Politikern und Politikerinnen passiert das häufig. Aber dafür, was technisch möglich ist, passiert noch relativ wenig.
Welche Gründe gibt es dafür?
Ingrid Brodnig: Meine Vermutung ist, dass Leute, die Falschnachrichten produzieren, mit simpleren technischen Methoden auch schon erfolgreich sind. Man kann Unwahrheiten ins Internet stellen oder alte Fotos nehmen und in einen falschen Kontext rücken. Hochtechnologische Fakes erfordern mehr Arbeit, als einfach böse Gerüchte zu verbreiten. Vor allem das Erstellen gekonnter Videofakes, sogenannter Deepfakes, ist schwierig. Viele dieser Videos schauen noch hölzern aus, man merkt etwa, dass das Gesicht viel zu starr ist oder der Kopf nicht zum Rest des Körpers passt. Sobald Deepfakes leicht erstellbar werden, besteht noch einmal eine größere Gefahr, dass es sehr viel breitenwirksamere Fakes geben wird.
Wie erkenne ich, ob ein Inhalt echt oder künstlich generiert ist?
Ingrid Brodnig: Bei Fotos kann ich mir ansehen, wie viele Finger die Hand einer Person hat. Bei KI-Bildern ist die Darstellung von Händen oft fehlerhaft. Oder die Schrift eines Bildes sieht aus wie Fantasieschrift, weil viele KI-Modelle Schrift nicht richtig darstellen können – man muss aber damit rechnen, dass diese Fehler seltener werden. Außerdem haben viele KI-Bilder eine hochglanzmäßige Optik oder ein Teil wirkt verschwommen. Generell kann ich schauen, ob das Bild in anerkannten Medien vorkommt. Viele Suchmaschinen bieten eine Rückwärtsbildersuche. Dort kann ich ein Bild hochladen und schauen, in welchen anderen Quellen es auftaucht. Wenn es nirgendwo im klassischen Journalismus verwendet wurde, also nur auf Social-Media-Kanälen oder in fragwürdigen Teilen des Internets, kann es sein, dass es künstlich generiert ist.
Künstliche Intelligenz trägt auch zur Verbreitung von Falschnachrichten bei. Warum sind das Internet und große Digitalplattformen so anfällig für Fake News?
Ingrid Brodnig: Weil Falschmeldungen so geschrieben werden, dass sie Emotionen auslösen. Eine Neuigkeit, die Staunen oder auch Wut auslöst, hat eine bessere Chance, geteilt zu werden. Wie zum Beispiel, dass ein Promi gestorben ist. Das erzählen die Leute gleich weiter, weil sie schockiert sind und auch andere informieren wollen. Und in dem Moment der Emotion vergisst man vielleicht die eine wichtige Frage: Stimmt das überhaupt?
Im März ging ein Posting der Plattform X viral, in dem der Salzburger Erzbischof Franz Lackner angeblich den Tod von Papst Franziskus öffentlich machte. Der X-Kanal war fake, die Salzburger Erzdiözese stellte klar, dass es sich um eine Falschnachricht handelt. Auf Facebook schrieb ein Nutzer dazu: Hier ist die Politik gefragt! Kann man so etwas nicht verhindern?
Ingrid Brodnig: Die Politik kann nicht zu hundert Prozent verhindern, dass es Falschmeldungen gibt. Was die Politik machen kann, ist, Druck auf Plattformen zu erhöhen, damit sie demokratische Risiken ernst nehmen, und Sicherheitsmechanismen einfordern. Gegen X hat die EU-Kommission bereits ein förmliches Verfahren gestartet, in dem es auch um die Frage geht, ob diese Plattform zu anfällig für Desinformation ist. Mit dem Digital Services Act hat die EU eine Plattformregulierung geschaffen, die auf systemische Risiken verweist. Hier müssen Plattformen erklären, welche Schritte sie setzen, um solche Risiken zu verringern. Es wird sich zeigen, ob genügend Druck gemacht wird und diese Regeln funktionieren.
Welche Arten von Falschnachrichten gibt es?
Ingrid Brodnig: Ein großes Feld ist die politische Falschmeldung. Hier geht es darum, ein politisches Lager, das man nicht mag, zu diskreditieren. Zum Beispiel die Meldung, dass die ehemalige Umweltministerin Leonore Gewessler die private Haustierhaltung verbieten oder hoch besteuern möchte. Das war eine Falschmeldung. Das heißt, hier werden Politiker und Politikerinnen, die bei manchen nicht beliebt sind, noch einmal zusätzlich diskreditiert. Sehr viel richtet sich auch gegen Minderheiten, Geflüchtete oder LGBT-Personen. Alle gesellschaftlichen Streitthemen eignen sich für politische Falschnachrichten. Das Zweite sind unpolitische Fakes, die ein Aufmerksamkeitshaschen sind. Zum Beispiel, dass ein Prominenter gestorben ist oder ein Sportler zu einem anderen Club wechselt. Das sind womöglich harmlosere Dinge, aber auch hier werden Menschen getäuscht.
Warum glauben Menschen an Falschnachrichten?
Ingrid Brodnig: Falschmeldungen produzieren häufig die gewünschte Antwort. Wenn man einen Politiker nicht mag und eine Falschmeldung zeigt, wie widerwärtig die Person angeblich ist, kommt der Confirmation Bias, also der Bestätigungsfehler, zum Zug. Wir Menschen haben einen Bestätigungsfehler. Das heißt, dort, wo eine Nachricht uns bestätigt, schauen wir eher hin. Die nächste Stufe sind Verschwörungsmythen. Zum Beispiel, dass die Klimaforschung von irgendwem Dunklen bezahlt wird. Menschen glauben solche Dinge zum Beispiel, weil sie eine stringent wirkende Erzählung der Welt bekommen. Das fühlt sich angenehmer an im Vergleich zu einer Welt, die oft nicht leicht durchschaubar ist.
Gibt es noch weitere Gründe?
Ingrid Brodnig: Häufig glauben Menschen auch als Reaktion auf einen Kontrollverlust an Verschwörungstheorien. Wenn ich den Job verliere oder eine Pandemie ausbricht und es eine Erzählung gibt, die mir vermittelt, dass ich es verstanden habe, kann mir das ein Gefühl von Kontrolle geben. Hier kann auch Selbsterhöhung stattfinden. Verschwörungsgläubige sind oft der Meinung, sie wären Teil einer kleinen Community, die die Wahrheit durchblickt hätte. Man fühlt sich cleverer als andere.
Es geht um Kontrolle und Selbstbestätigung?
Ingrid Brodnig: Viele Falschmeldungen bis hin zu Verschwörungsmythen erfüllen womöglich emotionale Bedürfnisse. Deshalb ist es so schwierig, auf der Fachebene zu kontern. Wenn ich sage: Den Klimawandel gibt’s, dann habe ich vielleicht inhaltlich recht, aber ich nehme der Person die emotionale Ebene weg. Leute können Fakes zum Klimathema auch glauben, weil es die angenehmere Erzählung ist. Zu glauben, dass es den Klimawandel nicht gibt oder es nicht so schlimm wäre, führt ja dazu, dass ich mein Leben nicht ändern muss. Ich muss nicht darüber nachdenken, mein Reise- oder Essverhalten zu ändern. Dass es den Klimawandel nicht gibt, ist eigentlich für uns alle die schönere Erzählung. Wenn dann jemand widerspricht und sagt: Nein, hier hast du den neuesten IPCC-Bericht, der den Klimawandel bestätigt, dann hat die Person zwar inhaltlich recht, aber sie dockt auf der falschen Ebene an.
Wie kommen wir stattdessen miteinander ins Gespräch?
Ingrid Brodnig: Beim Klimathema ist es wichtig zu betonen, dass wir sehr viel machen können. Also dass man Leuten sagt: Es gibt eine Krise, aber es gibt auch Handlungsmöglichkeiten. Wenn ich nur die Gefahr oder die Sorgen kommuniziere und keine Handlungsmöglichkeiten aufzeige, kann es sein, dass man es einfach nicht mehr hören will.
Wie spreche ich es an, wenn im Freundeskreis oder der Familie eine Falschnachricht versendet wird?
Ingrid Brodnig: Wenn man jemanden gut kennt, kann man die Person fragen, warum ihr das Thema so wichtig ist. Ist sie zum Beispiel so besorgt wegen des Themas, dass sie deshalb an die Falschnachricht glaubt? Beim Thema Impfungen kann es sein, dass Leute eine große Skepsis gegenüber Pharmakonzernen haben und dadurch viele negative Nachrichten über Pharmaunternehmen glauben – selbst falsche Nachrichten. Wenn jemand aus einem emotionalen Bedürfnis heraus etwas Falsches glaubt, kann ich versuchen zu erkunden, welches Bedürfnis genau dahintersteckt. Sinnvoll ist oft, zu überlegen: Gibt es Gemeinsamkeiten, die man betonen kann? Ich zum Beispiel verstehe manch eine Skepsis gegenüber Pharmakonzernen. Ich sage dann durchaus: Ich verstehe die Skepsis gegenüber solch großen Konzernen, ich würde auch nicht meine Hand ins Feuer legen für alles, was Pharmakonzerne weltweit machen – bei der konkreten Behauptung muss man aber trotzdem fair bleiben und schauen, ob sie stimmt. Wenn die konkrete Behauptung falsch ist, dann sollten wir das anerkennen. Sonst tun wir uns mit dem Miteinanderreden sehr schwer.
In Ihrem neuesten Buch „Wider die Verrohung“ beschreiben Sie, wie Falschnachrichten und Emotionalisierung dazu beitragen, dass öffentliche Debatten zunehmend verrohen. Wo nehmen Sie diese Verrohung wahr?
Ingrid Brodnig: Verrohung ist ein Spektrum. Das Schlimmste ist Gewalt. Ich denke zum Beispiel an den deutschen SPD-Abgeordneten Matthias Ecke, der im Europawahlkampf beim Aufhängen eines Wahlplakates niedergeschlagen wurde. Dann gibt es beleidigungsreiche Sprache in politischen Debatten. Wenn zum Beispiel der FPÖ-Spitzenkandidat Herbert Kickl in einer Rede sagt, er habe eine Fahndungsliste, und dann Namen von Politikerinnen und Politikern anderer Parteien nennt. Das ist eine Heftigkeit in der Sprache, die Aufmerksamkeit erzielt, aber natürlich nicht dazu beiträgt, dass wir leichter miteinander ins Gespräch kommen.
Was macht die zunehmende Verrohung des Diskurses mit uns als Gesellschaft?
Ingrid Brodnig: Sie führt zu einer Frontenstellung. In vielen dieser heftig geführten Debatten kommt es zu einem Gefühl von Eigengruppe versus Fremdgruppe. Die Fleischesser gegen die Nicht-Fleischesser. Die SUV-Fahrer gegen die anderen. Die Lastenrad-Fahrerinnen gegen die anderen. Es ist besonders leicht, Feindseligkeit bei Menschen auszulösen, wenn man ein starkes Gefühl der Eigengruppe versus Fremdgruppe erzeugt. Die Gefahr dieser verrohten Debatte ist, dass wir uns mit gesellschaftlichem Konsens schwertun, weil wir uns gedanklich dauernd in Gruppen einsortieren, anstatt zu überlegen, welche Gemeinsamkeiten wir haben.
Was kann ich als Einzelner gegen die sprachliche Verrohung tun?
Ingrid Brodnig: Ein bisschen Macht hat jeder und jede. Ich kann mir überlegen, ob ich bei allem mitspiele. Viele Debatten lösen gezielt moralische Empörung oder Wut aus. Wenn ich online etwas lese, das mich wütend macht, kann ich strategisch vorgehen. Die erste Frage lautet: Ist das, was mich wütend macht, überhaupt richtig? Oft ist es eine Falschmeldung oder es wird so zugespitzt geschrieben, dass ich falsche Schlüsse ziehe. Selbst wenn es stimmt, denn es gibt auch wirklich ärgerliche Vorfälle oder Aussagen von Politikern, die bewusst provokant formuliert sind, stellt sich die Frage: Will ich dem Thema meine Zeit geben? In manchen Fällen wird man zu dem Ergebnis kommen: Das ist mir nicht wichtig.
Wenn einem das Thema aber am Herzen liegt?
Ingrid Brodnig: Manchmal will man eine Provokation ansprechen, auch weil sie so deutlich ein Problem vorführt oder es darum geht, andere Menschen, beispielsweise Minderheiten, zu schützen. Wenn mir das Thema wichtig ist, kann ich mir die Zeit und den Raum nehmen, um zu überlegen, was eine kluge Antwort wäre. Wie kann ich es für Leute, die anderer Meinung sind, leichter verständlich machen? Wo besteht die Gefahr, dass ich selbst zu sehr in blinde Wut verfalle? Es gibt einen tollen Begriff der Kommunikationswissenschafterinnen Whitney Phillips und Diane Grimes. Sie erklären, wie man online geschickt wütend ist, und nennen es „achtsam wütend sein“.
Und wie ist man achtsam wütend?
Ingrid Brodnig: Eine Möglichkeit ist der Body Scan. Ich spüre in meinen Körper hinein und beobachte: Ist meine Nackenmuskulatur verkrampft? Ist mein Kiefer angespannt oder habe ich sogar meine Fäuste geballt? Dann kann es sein, dass ich wütender bin, als mir bewusst ist. In dem Zustand bin ich womöglich nicht geschickt darin, mich online zu äußern. Und das Zweite ist, selbst wenn man wütend ist und auch durchaus berechtigt Wut spürt, sich immer die Menschlichkeit der anderen Person vor Augen zu führen. Das ist ein Mensch mit Bedürfnissen, ein Mensch mit Familie. Es kann durchaus sein, dass ich die Politik oder die Äußerung einer Person ablehne, aber indem ich mir die Person trotzdem als Mensch vor Augen führe, hilft mir das, nicht in blinde Wut zu verfallen. Und es wäre schon viel erreicht, wenn mehr von uns nicht in blinde Wut verfallen.