Auch Träume brauchen einen Boden, um zu wachsen

 

Als wir uns gegenübersitzen, fällt mir sofort sein langärmeliges T-Shirt auf, das aussieht wie ein Hemd mit Sakko und Fliege. Ja, von denen habe er einige, meint Vasile Aurelian. Er trägt sie, wenn er zu wichtigen Terminen geht. Wir müssen lachen. Das Eis ist schnell gebrochen, obwohl wir uns nicht direkt unterhalten können, sondern nur über die Dolmetscherin Alina, die mit uns am Tisch Platz genommen hat. Sie kommt wie Vasile aus Rumänien und kennt ihn von der Caritas, wo sie arbeitet. Was die Sache leichter und schwerer macht. Leichter, weil Vasile ihr vertraut. Und schwerer, weil ja bekanntlich alles Übersetzung ist. Auch wenn man sich nicht zwischen zwei Sprachen bewegt.

von Wolfgang Tonninger

Während wir uns vorstellen und ich ein paar Eckdaten abtaste, gewöhnen wir uns an den Umweg. Name. Vorname. Wolfgang. Vasile. Wir schütteln uns noch einmal die Hand. Herkunftsland. Ort. Rumänien. Slănic. Mit den Himmelsrichtungen tut sich Vasile schwer. Alina meint, das hat mit seiner Schulbildung zu tun, die fehlt. Aber ich beharre darauf, dass er ja sicher ein Gefühl dafür hat, wo der Ort in Rumänien liegt, von wo er sich seit Jahren quer durch Europa auf die Reise macht. Er muss ja auch irgendwie heimkommen. Oder setzt er sich in einen Bus und wartet, bis er ausgeladen wird?

Wie es dort aussieht, in Slănic, will ich von Vasile wissen. „Das Dorf ist wunderschön. Es gibt viel Wald und Berge“, meint er mit einem breiten Lächeln hinter dem sehr gepflegten Bart. „Und wie groß ist es?“ „Nicht groß“, Vasile zögert, zählt die Zimmerdecke ab. „Ein Siebzig-Familien-Dorf.“ Als er gegangen ist, suche ich dieses vermeintliche Nest auf Google Maps. Und finde es als Kleinstadt in der Walachei am Südostrand der Karpaten. Einwohnerzahl: 4.669. Ich rechne durch 70 und weiß jetzt auch, welche Dimension eine Familie hat, von der Vasile spricht. Knapp 67 Personen. Irgendwas stimmt da nicht ganz, denke ich mir. Doch für Zahlenspielereien ist jetzt keine Zeit. Ich will ja seine Geschichte erzählen.

Und diese beginnt vor knapp 47 Jahren. Seine Eltern waren sehr arme Leute. Bauern. Besenbinder. Waldarbeiter. Als sein Vater bei einem Unfall ein Bein verliert, muss er als ältestes von acht Kindern einspringen und die Familie ernähren. Und so wurde aus dem Kind über Nacht ein Holzfäller. Ende der Kindheit. Ende der Fahnenstange. Da blieb keine Zeit für Schule. Auf zwei Jahre kommt er mit Hängen und Würgen, wenn er alles zusammenzählt. „Da lernst du nicht schreiben. Nur Nummern halt.“ Für den Rest hat er eine Handy-App, die ihn unterstützt.

Wenn Vasile von Rumänien erzählt, hat er glasige Augen. Obwohl oder weil ihn die Not letztlich von dort weggetrieben hat. Zuerst nach Schweden, dann 2021 nach Österreich, weil es nicht so weit weg von zuhause ist. Zuhause? Er zeigt mir ein Bild auf dem Handy. Halb stolz, halb beschämt. Ein schiefes Lehmhaus mit zwei Zimmern unter einem Rest von Dach, das wie auf die Mauern geworfen wirkt. Dort, erzählt mir Vasile, leben seine Mutter und seine zwei Töchter – mit 5 Enkelkindern, aber ohne Mann – und warten auf das Geld, das er und seine Frau hier Tag für Tag sprichwörtlich zusammenkratzen.

Er zeigt mir sein Wochenticket für die Fahrt nach Bischofshofen zu seinem Standplatz als Apropos-Verkäufer, das allein 47 Euro kostet, und ich frage ihn, wie sich das alles ausgehen soll – zumal ja auch in Salzburg die Not sein Begleiter ist, zumindest was die Schlafstelle bei der Caritas angeht. „Irgendwie geht es immer“, meint Vasile, der Überlebenskünstler, beinahe beschwichtigend in dieser eigenartigen Mischung aus Abgebrühtheit und Gottvertrauen, „auch wenn ich beim Aufstehen nicht sagen kann, wie der Tag wird.“ Und dann sind da ja auch noch die netten Menschen bei der Caritas, wo er und seine Frau schlafen, essen und sich waschen können. Dort hat er von Apropos gehört. Dass er jetzt einen Ausweis als Zeitungsverkäufer hat, macht alles leichter – auch wenn er heute noch keinen Cent verdient hat. Er lacht. Vielleicht auch darüber, dass er das Wort „leicht“ gebraucht hat und nicht über seinen Blutdruck spricht, der viel zu hoch ist. Und seinen Lebensstress. Und seine kaputten Bandscheiben. Und sein Loch im Trommelfell, das vieles verschluckt, was er gerne hören würde.

Ich frage Vasile, was er in Salzburg unternimmt, wenn er keine Zeitungen verkauft. Am liebsten ist er im Mirabellpark. Die Wiese dort unter den ausladenden Bäumen, die liebt er. Das bunte Treiben. Die vielen unterschiedlichen Menschen, die vorbeigehen. Er beobachtet gern. Und manchmal kocht er sich auch etwas, wie neulich frische Brennnesseln. „Im Mirabellpark?“ „Nein, dazu geh ich auf einen Platz hinter dem Bahnhof.“

Und seine Pläne? „Ich habe viele!“ Vasile wirkt plötzlich so, als reichten ihm die Finger nicht an den Händen. Doch nur kurz. „Nein. Eigentlich habe ich nur einen Plan. Ich möchte dieses kleine Häuschen auf den Flecken Erde stellen, der mir gehört. Eisen und Beton liegen in Rumänien schon bereit. Jetzt fehlen noch die Ziegeln. Dann kann es losgehen. Und wenn das Haus fertig ist, dann wird auch meine Zeit in Salzburg zu Ende sein.“ Auch wenn es schön hier ist und sauber und die Menschen freundlich sind, fühlt es sich nicht so an wie das kleine Häuschen aus rumänischem Lehm. Mit den Bergen im Rücken und den Kindern und Enkelkindern rundherum. Und dem Wissen, dass sie eine Schulbildung und eine Zukunft haben.

„Ist das nicht ein bisschen schräg?“, frage ich ihn mit einem Augenzwinkern, dass er als stolzer Roma, dem das Unterwegssein in den Adern fließt, von einem Häuschen träumt. „Ja, schon“, meint Vasile und schmunzelt, „es ist gar nicht so lange her, da sind meine Leute noch mit dem Planenwagen durch die Gegend gezogen. Aber die Zeiten ändern sich eben. Und außerdem habe ich nicht mal mehr ein Pferd, das ich vor den Wagen spannen könnte. Es ist voriges Jahr gestorben.“ Vasile hält kurz inne, um dann hinzuzufügen: „Aber das Tanzen werde ich nie verlernen.“

Vasile lächelt und ich versuche das Lächeln zu deuten. Sein Leben hat sich nie leicht angefühlt, aber er hat gelernt, damit umzugehen. Und: Er hat sich für das Lachen entschieden. „Ich bin wie ein Baum, der nach außen hin blühen und die Welt erfreuen will. Auch wenn im Inneren die Sorgen groß sind.“

Apropos tanzen. Als ich Stunden später nach Hause gehe und an Vasile und sein T-Shirt denke, das nach außen hin Hemd, Sakko und Fliege in einem ist, setzt sich ein Luftzug mit einem Lied auf meine Schultern. Beinahe feierlich. Und ich beginne zu summen. Das LIAD ÜBAS LOSZIAGN vom unvergesslichen Willi Resetarits. „I hob a Ewigkeit kaa Pfead mea, oba i hois heit ausm Schtoi. Du sogst de Odla san scho ausgstoabn, oba I heas heit übaroi. Bind ma se de buntn Schal um, reit ma los, wäu d’Sunn kummd iban Berg – auf uns.“