Aufstehen, wo andere mitlaufen. Geht das überhaupt?

 

Wir alle sind Mitläufer:innen. Diese unangenehme These verfolgt die Autorin und Journalistin Solmaz Khorsand in ihrem jüngsten Buch „untertan – von braven und rebellischen Lemmingen“. Sie verbindet darin historische Geschehnisse, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Überlegungen und hat mit Künstlerinnen im Exil oder Fetischisten gesprochen, warum sie aufbegehren oder sich unterwerfen. Im Apropos-Interview erläutert Khorsand außerdem, wie Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber zu einer Exit-Strategie aus dem Mitläufertum werden kann.

Interview mit Autorin Solmaz Khorsand

von Sandra Bernhofer

Sie leiten Ihr Buch ein mit „Es gibt nur eine Art, dieses Buch zu beginnen. Mit Ekel. Mit Selbstekel.“ Wann haben Sie sich zuletzt vor sich selbst geekelt?

Solmaz Khorsand: Um ehrlich zu sein, in der Vermarktung dieses Buches. Man kann meine ungewollte Anpassung an die Mechanismen der Buchwelt als lemminghaft interpretieren. Natürlich möchte ich, dass mein Buch „untertan“ gelesen wird, und freue mich sehr über jedes Interesse von Medien und Publikum. Gleichzeitig muss ein Teil von mir sich verbiegen, wenn es darum geht, mich selbst zu vermarkten und ständig in den sozialen Medien zu posten. Dabei will ich nur schreiben.

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich mit Gruppendynamiken und Mitläufertum auseinandersetzen?

Solmaz Khorsand: Ich gehöre zu der Gruppe der Menschen in Österreich, die sich früh damit auseinandergesetzt hat, wie viel in einer Gesellschaft, die fast ausschließlich aus Nachkommen von Tätern und Ermöglicherinnen des Zweiten Weltkriegs besteht, unter der Oberfläche eigentlich noch an Grausamkeit da ist und wie sich diese äußert. Ich hatte das Glück, dass ich in Schulen war, wo wir uns viel mit Literatur beschäftigt haben, die sich direkt oder indirekt mit Regimen auseinandersetzt, wie „Farm der Tiere“ von George Orwell oder „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco. Dabei habe ich mich nie für die Anführer interessiert, sondern für die, die mitlaufen. Insofern hat mich das Thema schon immer umgetrieben und mir auch Angst gemacht, weil wir uns dem als Gesellschaft viel zu wenig stellen. Denn die Thematik ist nicht gerade jetzt besonders aktuell, wie mir viele sagen, die mein Buch gelesen haben, sondern immer.

Anhand von Beispielen wie dem Nationalsozialismus oder dem Genozid von Srebrenica zeigen Sie, dass Menschen recht schnell bereit sein können, grausame Dinge zu tun. Kann jede:r zum Täter, zur Täterin werden?

Solmaz Khorsand: Ich habe dazu unter anderem mit dem deutschen Traumaforscher Thomas Elbert gesprochen. Er hat herausgefunden, dass der Mensch Spaß am Töten hat. Anders als andere Lebewesen hat er keine intraspezifische Tötungshemmung. Das Einzige, was uns davon abhält, einander etwas anzutun, ist die Moral, antrainiert durch die Erziehung. Diese Hemmschwelle kann unter den falschen Bedingungen so weit heruntergefahren werden, dass wir zu allen möglichen Grausamkeiten fähig sind: von der Gruppenvergewaltigung über Kannibalismus bis hin zum Holocaust. Zentral ist dabei die Propaganda. Sie sorgt dafür, dass wir den anderen nicht mehr als Menschen wahrnehmen, sondern als jemanden, der nicht zu unserer Art zählt und es daher verdient hat zu sterben. Also ja: Wir alle können zu Täter:innen werden.

In Ihren Recherchen haben Sie herausgefunden, dass es im Schnitt nur rund 20 bis 30 Prozent sind, die sich Systemen entgegenstellen. Welche Faktoren spielen hier eine Rolle? 

Solmaz Khorsand: Ein beliebtes Feld für die Täterforschung im Holocaust ist das Hamburger Polizeibataillon 101. Das waren ganz normale Männer, Familienväter, gewöhnliche Hafenarbeiter, die während des Naziregimes aus ihrem regulären Arbeitsbetrieb gerissen wurden, um zwischen 1939 und 1943 Zehntausende Juden zu ermorden. Das waren keine eingefleischten Nazis, keine Sadisten und doch hat sich von knapp 500 nur ein Dutzend geweigert zu morden. Die, die nicht mitgemacht haben, haben das so begründet, dass sie in ihrem Leben bereits gefestigt waren, sich nicht mehr andienen mussten, um befördert zu werden oder es zu etwas zu bringen. Das ist relevant, weil wir gerade am Arbeitsplatz sehr oft Dinge tun müssen, die gegen unsere Prinzipien sind. Wir machen es trotzdem, weil wir sonst gefeuert oder nicht befördert werden. Diese Einwände sind berechtigt, aber oft nur eine Entschuldigung, um nicht autonom zu handeln. 

Sie sprechen die Arbeitswelt an, ein System, das per se wenig demokratisch ist. Kann man an einem solchen System etwas ändern?

Solmaz Khorsand: Das kommt darauf an, was der Anspruch ist. Wenn es Teil der Firmenkultur ist, dass jemand von Kolleg:innen oder einem Vorgesetzten gedemütigt wird, kann man sehr wohl für ihn einstehen, anstatt zu schweigen und zu meinen, dass einen das nicht betrifft. Marginalisierte Gruppen oder Frauen glauben häufig, dass sie etwas verändern könnten, wenn sie erst selbst an der Spitze sind. Damit sitzen sie einer Illusion auf, haben mir sowohl die Expertinnen aus der Organisationsoziologie wie der Gruppendynamik bestätigt. Denn um an die Spitze zu kommen, müssen sie sich so sehr an die Firmenkultur anpassen, dass sie in diesem Prozess ihre Autonomie meist nicht bewahren können.

Sie bringen Beispiele, in denen Anpassung nichts Schlechtes ist.

Solmaz Khorsand: Anpassung per se ist weder schlecht noch gut. Mir war es wichtig, das mit meinen rebellischen Lemmingen zu zeigen, den sogenannten Passern, nach dem englischen Wort für „durchgehen als“. Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte voller Passer: Menschen, die aus ihrer sozialen Identität ausbrechen, weil sie als Angehörige einer bessergestellten Gruppe durchgehen und so ein selbstbestimmtes Leben führen können. Schwarze mit hellerer Haut, die im 19. Jahrhundert als Weiße gelesen wurden und damit dem Sklavendasein entfliehen konnten und so die Vorteile des Weißseins genossen. Auch religiöse Minderheiten, die vorgeben, dass sie Atheisten sind oder der Mehrheitsreligion angehören. Ebenso der Fall des französischen Schriftstellers Edouard Louis aus der Unterschicht, der zu einem Star der französischen Elite wurde. Dafür musste er seinen Namen und seinen Dialekt ablegen, lernen, leiser zu lachen, leiser zu niesen, sich die Zähne richten lassen. Ich will nicht romantisieren, dass man sein Selbst verleugnen muss, um ein besseres Leben für sich zu schaffen. Aber man kann es als Rebellion lesen, weil man sich gegen das stellt, was für einen vorgesehen gewesen wäre.

In Ihrem Buch zitieren Sie auch Sokrates: „Es ist besser, mit der ganzen Welt uneins zu sein als mit sich selbst.“ Wie können wir lernen, die Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber zu leben?

Solmaz Khorsand: Mit meinem Buch will ich keine Ratschläge geben, sondern Denkanstöße. Die Abkehr von einer Gruppe ist oft mit existenziellen Ängsten verbunden – wer geht, wird ausgeschlossen. Gerade totalitäre Regime setzen darauf, Menschen zu vereinzeln. Ich plädiere dafür, Einsamkeitskompetenz zu entwickeln. Das heißt nicht, dass Einsamkeit nicht auch zermürbend sein kann. Sie wird in Form von „weißer Folter“ gezielt eingesetzt, um Menschen zu brechen. Aber es auszuhalten, auch einmal allein dazustehen, ist zumindest für mich besser, als Teil eines Wirs zu werden, das anderen schadet.

Was wollen Sie mit Ihrem Buch auslösen?

Solmaz Khorsand: Ich möchte Menschen dazu bringen, sich öfter die Frage zu stellen, warum sie bei gewissen Dingen mitmachen, warum sie sich Gruppen anschließen und welche Konsequenzen das haben kann. Denn viel zu oft schieben wir es auf die Umstände oder ein System und behaupten, dass wir nicht anders können, als uns anzupassen. Mein Buch ist außerdem eine Anklage an jene, die sich oft als Unschuldige positionieren und die Verantwortung abgeben, indem sie sagen: „Wir wurden von Demagogen und Populisten verführt“, wenn sie wie jetzt rechtsextreme Parteien wählen. Wir sollten uns bewusst sein, welche Ziele eine Gruppe hat und dass wir Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben, wenn wir uns einer Gruppe anschließen.