Das Drehbuch für Weihnachten

 

Ein besinnliches Weihnachtsfest steht auf dem Wunschzettel der meisten. Nicht selten werden die Festtage aber durch Stress und Konflikte zur Belastungsprobe für die ersehnte Familienharmonie. Manfred Stelzig ist Psychiater und Weihnachtsfan. Er verrät, wie das Fest der Liebe gut gelingen kann.

Titelinterview mit Psychiater Manfred Stelzig

von Julia Herzog

Herr Stelzig, was verbinden Sie mit dem Begriff „gut verpackt“?

Manfred Stelzig: Bei „gut verpackt“ fällt mir als Erstes das Verpacken von Geschenken ein. Wir haben in unserer Familie die Tradition, dass wir für Weihnachten besonders schöne Geschenkpapiere suchen und mit Verzierungen wie Bändern und Zweigen verschönern. Bei dem Thema geht es für mich aber auch um den Bereich der Kommunikation und Gesprächsführung. Hier stellt sich die Frage, wie man Botschaften und Themen, die etwas komplizierter sind, gut verpackt, sodass mein Gegenüber sie annehmen kann. Das ist eine große Kunst.

Viele wünschen sich eine harmonische Weihnachtszeit mit den Liebsten. Das gelingt nicht immer – Streit und Diskussionen sind oft programmiert. Warum ist Weihnachten so anfällig für Familienstress?

Manfred Stelzig: Das Weihnachtsfest ist in unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Jedes Jahr kommen dafür Familie und Freunde von überallher zusammen. Dieses Zusammenfinden ist eigentlich eine wunderschöne Tradition. Auf der anderen Seite treffen so aber nicht nur viele Menschen, sondern auch viele unterschiedliche Erwartungen und Meinungen aufeinander. Das kann zu Konflikten führen.

Das Fest ist also mit Erwartungen aufgeladen?

Manfred Stelzig: Weihnachten ist in jeder Hinsicht ein „Megafest“. Es ist das wichtigste Fest für den Handel und viele Menschen wollen damit Geld verdienen. Im Kern ist es hingegen ein religiöses Fest, bei dem wir im Kreise unserer Liebsten die Geburt Christi feiern. Um Weihnachten ranken oftmals viele unterbewusste Glaubenssätze: Es müssen die richtigen Geschenke gekauft werden. Es muss ein perfektes Festessen geben. Es muss ein Fest der Liebe und Verbundenheit sein. Die Erwartungshaltung ist irrsinnig hoch. Noch dazu hat jedes Familienmitglied mitunter eine eigene Vorstellung davon, wie das Fest ablaufen soll. 

Wie geht man mit den unterschiedlichen Erwartungen um?

Manfred Stelzig: Als Erstes sollte man versuchen, gegensätzliche Vorstellungen wahrzunehmen und zu akzeptieren. Dann kann man so lange über die unterschiedlichen Ideen sprechen, bis man einen Kompromiss gefunden hat oder jemand sagt: „Das ist in Ordnung für mich. Machen wir es heuer so, wie du es dir wünschst.“ Dieses Aufeinanderzugehen ist oft schon ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk an den anderen. Außerdem macht es Weihnachten zum idealen Übungsfeld, was den Umgang mit anderen Meinungen betrifft.

Was meinen Sie mit „Übungsfeld?“

Manfred Stelzig: Während des Jahres gibt es ständig Situationen, in denen man mit seinen Mitmenschen nicht einer Meinung ist. Trotzdem muss oder möchte man weiter mit ihnen zusammenarbeiten und -leben. Deshalb sollten wir ein Leben lang üben, miteinander auszukommen. Zu Weihnachten ist diese Übung insofern gut möglich, da besonders viele Vorstellungen aufeinanderprallen: Der eine möchte in die Kirche gehen, der andere nicht. Der eine möchte Geschenke, der andere ist gegen den Konsumzwang. Der eine möchte Würstelsuppe essen, der andere isst Heiligabend immer Fisch. Diese Unterschiede gilt es anzuerkennen und erstmal auszuhalten.

Als Kind war Weihnachten für viele eine magische Zeit voll gespannter Vorfreude und Glück. Viele sehnen sich als Erwachsene nach diesem Gefühl und wünschen sich das perfekte Weihnachtsfest. Wie geht man mit den eigenen hohen Erwartungen um?

Manfred Stelzig: Der Wunsch nach einem idyllischen Weihnachtsfest wie in alten Zeiten ist gut nachvollziehbar. Wer jedoch den Perfektionismus in den Vordergrund stellt – also unbedingt das perfekte Weihnachtsfest braucht –, geht aus der direkten Begegnung mit seinen Mitmenschen heraus. Das heißt, wenn ich eine Freude an Weihnachten habe und mir eine schöne Zeit mit meiner Familie wünsche, sollte ich einige Abstriche beim Perfektionismus machen.

Wie gelingt das?

Manfred Stelzig: Indem ich mich nicht von einer perfekten Erwartungshaltung fremdsteuern lasse und mir vor Augen führe, was wirklich wichtig ist. Im Kern geht es zu Weihnachten doch um die gemeinsame Zeit mit den Liebsten. Diese Freude über das Zusammensein sollte wichtiger sein als das perfekte Menü oder ein makellos geschmückter Baum. Wenn ich diese Verbundenheit in den Vordergrund stelle, ist es gar nicht mehr so schlimm, wenn die Kinder im letzten Moment einen Saustall machen oder in der Küche etwas anbrennt. Außerdem kann man als perfektionistisch veranlagter Mensch zu Weihnachten wunderbar üben, Fehler auszuhalten und zu akzeptieren. Wer sich nicht die Weihnachtsfreude nehmen lässt, wenn etwas schiefläuft, hat schon viel gewonnen.

Oft flammen zu Weihnachten alte Konflikte wieder auf. Sollte man sie ansprechen oder lieber die Harmonie wahren?

Manfred Stelzig: Nur weil Weihnachten ist, kann man nicht sagen: „Jetzt ist alles eitel Wonne!“ Unstimmigkeiten oder Streit lassen sich nie ganz vermeiden. Wenn man bereits weiß, dass es einen Konflikt gibt, der noch nicht bereinigt worden ist, hilft es, vorab das Gespräch zu suchen. Am besten trifft man die beteiligten Personen einige Wochen vor Weihnachten und erklärt die Situation: „Ich fände es schön, wenn wir dieses Jahr zusammen Weihnachten feiern. Es gibt aber noch ein paar Punkte, die wir vorher besprechen sollten, damit ich mich wohlfühle.“ Diese frühzeitige Aussprache kann oft schon viel Druck wegnehmen. 

Wie kann man sich noch auf Weihnachten vorbereiten?

Manfred Stelzig: Ich rate prinzipiell, sich einige Zeit vor den Feiertagen zu treffen und einen Plan zu erstellen. Man sollte sich früh fragen, wie man das Fest gemeinsam gestalten kann, sodass es ein feines, gutes Miteinander ist: erfüllt, freudvoll, entspannt, genießend.

Wie erstellt man diesen Plan?

Manfred Stelzig: Indem man sich wichtige Fragen stellt: Was gibt es zu essen? Wer kauft dafür ein? Wer besorgt die Geschenke? Wer schmückt den Baum? Wer übernimmt in der Küche das Kommando? Feiern wir nur mit der Kernfamilie oder auch mit entfernter Verwandtschaft und Freunden? Man überlegt sich wie ein Regisseur, der ein Drehbuch ausarbeitet, wie man sein persönliches Weihnachtsfest gestalten möchte. Außerdem ist das Risiko für Unstimmigkeiten geringer, wenn die wichtigsten Punkte geklärt und die Aufgaben verteilt sind. So weiß jeder, zumindest grob, wie die Weihnachtsfeiertage ablaufen.

Von unterschiedlichen Essgewohnheiten bis zu politischen Ansichten – heikle Themen gibt es viele. Wie verpackt man ein schwieriges Thema?

Manfred Stelzig: Das Wichtigste ist, nicht sofort aufbrausend zu werden, wenn man eine andere Meinung nicht nachvollziehen kann. Im ersten Schritt sollte ich in einer Diskussion versuchen, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen und mich zu fragen, warum er die Sache anders sieht als ich. Dann kann ich meinen persönlichen Standpunkt schildern und erklären, warum ich dieser Ansicht bin. Dabei ist es ganz wichtig, dass ich mich nicht den Argumente meines Gegenübers verschließe und sozusagen die Tür zu meinem Herzen offen lasse für die Meinung und Gefühle des anderen.

Ist das immer realistisch?

Manfred Stelzig: Wenn man lösungsorientiert ist, lässt sich vieles auf die Art regeln. Man kann natürlich auch streit- oder kampfesorientiert sein, frei nach dem Motto: „Ich lasse mir nichts sagen und möchte mich auf alle Fälle durchsetzen.“ Oder man ist von einem Streit aus der Vergangenheit noch dermaßen gekränkt, dass man sich deshalb nicht auf sein Gegenüber einlassen kann, obwohl dieses versucht, eine gemeinsame Gesprächsbasis herzustellen. Dann wird es schwieriger.

Was hilft in der Situation?

Manfred Stelzig: Im ersten Moment fühlt man sich vom Verhalten des Gegenübers wahrscheinlich vor den Kopf gestoßen und denkt sich: „Wie kann man nur so blöd sein?“ Oder: „Wie kann man so sensibel sein?“ Diese Gedanken sind Gift für jeden Konflikt. Auch hier rate ich, einen Rollentausch durchzuführen. Das gelingt, indem man aufrichtig neugierig ist und wissen möchte, wie die Meinung des anderen zustande gekommen ist. Was hat ihn geprägt, dass er diese Ansicht vertritt? Welche Erfahrungen hat er im Leben gemacht, dass er heute so über dieses Thema denkt? Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist es im Grunde ja total interessant, dass hier ein Mensch vor mir sitzt, der die Welt oder zumindest einzelne Aspekte davon ganz anders sieht als ich. Das ist eine Gelegenheit, etwas Neues zu lernen oder mich in Akzeptanz zu üben. 

Die Menschen so nehmen, wie sie sind?

Manfred Stelzig: Genau. Gerade zu Weihnachten sollte die Akzeptanz für unsere Mitmenschen in unseren Herzen schlagen. Es gibt unzählige politische, kulturelle oder religiöse Sichtweisen und ich finde, Weihnachten sollte dazu einladen, unterschiedliche Ansichten nebeneinander stehen zu lassen. Ohne, dass man den anderen bekehren, bewerten oder verändern muss. Zu Weihnachten geht es um Begegnung und das Wertschätzen der Menschen in meinem Leben. Eine politische Einstellung oder eine religiöse Ausrichtung sind ja nur ein Aspekt eines Menschen. Der Mensch in seiner Unverwechselbarkeit ist ein irrsinnig faszinierendes Wesen. Man sollte stets versuchen, das Verbindende, das alle Menschen berührt, in den Vordergrund zu rücken. 

Wenn es trotz guter Planung und Absichten zum Streit unterm Christbaum kommt?

Manfred Stelzig: Es wird immer wieder Situationen geben, in denen etwas schiefläuft. Weihnachten ist dafür prädestiniert, dass etwas umfällt oder zu brennen beginnt. Wenn das Fest nicht nach Plan läuft oder ein arger Streit ausbricht, sollte man eine Pause einlegen. In der Rolle des Regisseurs kann man wie beim Filmdrehen laut „Cut“ rufen und alle Beteiligten aus der Szene holen. Am besten macht man dann eine Zeit lang etwas komplett anderes und geht an die frische Luft oder spielt mit den Kindern. Wenn alle wieder in einem Raum sind, wird die Szene von Neuem gestartet. Wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass eine einzelne Diskussion oder ein Missgeschick nicht gleich das ganze Weihnachtsfest ruinieren. 

Welche Strategien helfen, wenn der Weihnachtstrubel zu viel wird? 

Manfred Stelzig: Wenn man viel Zeit mit anderen Menschen verbringt, ist es wichtig, gut auf sich selbst zu schauen und sich regelmäßig zu fragen: „Wie geht es mir gerade?“ Der Soziologe Aaron Antonovsky spricht von einer Stresswaage. Auf der einen Seite stehen Belastung und Stress. Auf der anderen Seite steht alles, was mir guttut und mein Leben schön macht. Wenn ich merke, dass Überforderung und Stress in mir entstehen, kann ich versuchen, meine Aufmerksamkeit bewusst auf die andere Seite der Waage zu lenken. Das gelingt mir, indem ich mir folgende Dinge überlege: Was macht mir Spaß im Leben? Was tut mir gut? Für welche Dinge oder Menschen bin ich dankbar? Wenn man sich das Gute und Schöne im eigenen Leben bewusst vor Augen hält, wird die Aufmerksamkeit automatisch von der Überforderung weggelenkt.

Was kann man noch tun, um in seine Mitte zu finden?

Manfred Stelzig: Wenn im Außen alles zu viel wird, ist es hilfreich, sich einen inneren Wohlfühlort zu schaffen. Ich persönlich stelle mir dafür meinen inneren Seelengarten vor. Diesen Garten kann man so bunt gestalten, wie man möchte: mit prächtigen Blumenbeeten, einem kleinen Teich oder einem klaren See. An diesen Ort kann ich mich zurückziehen, wenn ich Entspannung brauche. Dafür schließe ich die Augen, atme tief durch und genieße für ein paar Sekunden die Ruhe in meinem Seelengarten.

Ein schönes Bild. 

Manfred Stelzig: Ja, dabei muss es gar kein Garten sein. Jeder hat einen anderen Wohlfühlort. Man kann sich auch dorthin beamen, wo man zuletzt Urlaub gemacht hat. Wenn man die Augen schließt und sich vorstellt, dass man im warmen Meerwasser schwimmt oder die Sonnenstrahlen auf der Haut spürt, entspannt das auch. Für ein paar Augenblicke in eine wohltuende Fantasiewelt einzutauchen ist das ganze Jahr über ein gutes Mittel zur Entspannung. 

Wie feiern Sie in Ihrer Familie Weihnachten?

Manfred Stelzig: Ich habe vier Kinder und zwei Enkelkinder – zu Weihnachten ist also immer viel los bei uns. Für meine Frau und mich ist gute Organisation das Wichtigste. Wir planen das Weihnachtsfest sehr früh. Das beginnt schon vor der Adventzeit, wenn wir uns kleine Geschenke für die Adventkalender überlegen. Am Heiligabend koche immer ich, das macht mir riesigen Spaß. Am 25. Dezember laden wir Freunde ein und kochen gemeinsam ein großes Festessen. Was es zu essen gibt, wo wir unseren Christbaum kaufen und wie er geschmückt wird, ist alles schon entschieden. So können wir das Fest hoffentlich auch dieses Jahr entspannt genießen