Der lachende Engel

 

Am 15. Februar findet der Welt-Angelman-Tag statt. Ein Tag, um auf eine seltene Genbesonderheit aufmerksam zu machen, deren Betroffene 24-Stunden-Betreuung benötigen. Der siebenjährige Etienne ist einer davon. Seine Familie erzählt, wie es sich mit einer Diagnose lebt, die alles verändert. 

von Julia Herzog

Es herrscht ausgelassene Stimmung im Haus der Familie Thevelin-Schatzmann in Adnet. Papa Denis steht in der Küche und backt Pizza. Die Familienmitglieder rufen ihm die Zutaten zu, die je nach Geschmack nicht am Belag fehlen dürfen. Im Hintergrund ertönen helle Jazzklänge. Sohn Paul fragt, ob er vor dem Essen noch etwas naschen darf. Hund Zappa schleicht zwischen den Beinen umher und Mama Annette stellt schließlich eine kleine Schale mit Knabbereien auf den Tisch. Nun ist auch das Interesse des jüngsten Familienmitglieds geweckt: Blitzschnell greift der siebenjährige Etienne in die Schale und steckt sich die Leckereien in den Mund. Dafür lässt er das Sieb fallen, an dem er zuvor geknabbert hat. Annette Schatzmann lacht: „Etienne steckt sich alles in den Mund. Er hat ein super Immunsystem und ist eigentlich der Gesündeste in der Familie.“ Während seine Mutter spricht, isst Etienne die Schüssel leer und lacht dabei herzlich und ansteckend. Schnell wird klar: Etienne ist anders.

Der 7-Jährige wurde mit dem seltenen Angelman-Syndrom geboren. Diese genetische Veränderung, mit der etwa eines von 15.000 Neugeborenen zur Welt kommt, hat schwere Entwicklungsverzögerungen sowie kognitive und motorische Einschränkungen zur Folge. Betroffene können ein Leben lang nicht sprechen, haben Schwierigkeiten zu gehen und müssen gefüttert und gewickelt werden. Ein überraschendes Merkmal des Syndroms: überdurchschnittliche Fröhlichkeit. So scheint es zumindest, da die Betroffenen oft einen glücklichen Gesichtsausdruck haben und viel lachen. „Übermäßiges Lachen ist ein Merkmal von Angelman-Kindern. Sie lachen aber auch in Situationen, in denen sie gestresst sind oder sich nicht wohlfühlen“, erklärt Annette Schatzmann. „Im Grunde sind sie aber fröhliche Menschen, die mit Offenheit und Neugierde auf ihre Mitmenschen zugehen, sie berühren und umarmen.“

So fröhlich Etienne und die Stimmung im Haus heute Abend sind, der familiäre Alltag sieht meist anders aus: „Unsere Tage laufen sehr geregelt ab. Je routinierter unser Alltag ist, desto besser funktioniert das Leben mit dem Syndrom“, erzählt Denis Thevelin. Am schwierigsten sei das Leben vor der Diagnose gewesen: „Als Etienne 2 Monate alt war, wurde festgestellt, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmt. Sofort gab es die wildesten Diagnosen – etwa, dass er blind oder am Erblinden ist“, erzählt Annette Schatzmann. Nach einem Jahr kam die Vermutung auf, dass Etienne Albinismus habe. „Mit dieser Hypothese haben wir uns damals abgefunden und unser Leben danach ausgerichtet.“ Bis zu vier Mal pro Woche brachten Etiennes Eltern ihn zur frühkindlichen Förderung und zu Ergo- und Physiotherapie. Bald stellten die Therapeuten fest, dass nicht nur Etiennes Sehkraft betroffen ist. Als er im August 2019, kurz vor seinem dritten Geburtstag, schließlich seinen ersten epileptischen Anfall hatte, stellte ein Neurologe im Kinderspital die Diagnose Angelman-Syndrom. Ein Moment, der sich eingebrannt hat: „Einerseits waren wir erleichtert, weil wir endlich Gewissheit hatten. Wir haben ja lange geahnt, dass etwas nicht stimmt. Ich kann mich erinnern, dass ich in dem Jahr vor der Diagnose jeden Abend mit Tränen eingeschlafen bin. Es hat sich angefühlt, als wäre jemand gestorben. Von daher begann unsere Trauerphase schon vor der Diagnose. Andererseits ist in dem Moment trotzdem die Welt zusammengebrochen“, erzählt Schatzmann. Eine erste Anlaufstelle nach der Diagnose war der Angelman-Verein in Frankreich, wo die Familie damals lebte. Nach dem Umzug in Annettes alte Heimat Salzburg wurde der Angelman Verein Österreich zur zentralen Stütze: „Der Verein ist unsere neue Familie. In der Gemeinschaft finden wir immense seelische und praktische Unterstützung. Wir helfen uns alle gegenseitig – etwa bei Administrativem wie dem Beantragen von Pflegegeldern. Das Wertvollste sind jedoch die Elterntreffen. Die anderen verstehen die Ängste und Sorgen, die uns plagen, sehr gut – weil sie sie selbst fühlen.“

Nach dem Abendessen spielt Papa Denis Klavier in der Stube. Etienne folgt der Melodie mit dem für Angelman-Kinder typisch wankenden Gang und stellt sich neben seinen Vater. Der 7-Jährige streckt den Arm aus und drückt ebenfalls in die Tasten. Das Resultat ist ein herrlich chaotisches Duett. Etienne lacht sein ansteckendes Lachen. Er scheint hellwach, obwohl die Schlafenszeit näher rückt. „Zum Glück haben wir Etiennes Schlafstörung heute gut im Griff. Früher ist er nachts oft aufgewacht und stundenlang nicht mehr eingeschlafen. Denis und ich haben uns dann abwechselnd um ihn gekümmert. Dieser Schlafentzug war die absolute Hölle“, erinnert sich Schatzmann. „Mittlerweile haben wir eine Schlafroutine gefunden, die gut funktioniert. Ich schlafe jede Nacht bei Etienne. Wenn er aufwacht, greift er zu mir rüber und sobald er spürt, dass jemand da ist, schläft er meistens wieder ein.“ Für Außenstehende sei oft schwer vorstellbar, was es bedeutet, ein Kind zu haben, das man keine Sekunde des Tages aus den Augen lassen kann: „Unser Fokus ist immer auf Etienne gerichtet. Noch kann er die Haustür nicht selbst aufmachen. Eine gleichaltrige Angelman-Tochter von Freunden in Frankreich hat es geschafft, die Haustür zu öffnen und in den Garten zu gehen. Das kleine Mädchen ist im Pool ertrunken. Das ist das Schlimmste, was Eltern widerfahren kann.“ Zeit zu zweit oder Elternzeit mit dem 10-jährigen Paul, dem Bruder von Etienne, sei kaum möglich. Die Familie sei schon seit Längerem auf der Suche nach einer Betreuungsperson, die sich gelegentlich um Etienne kümmert. „Wir haben einige Annoncen geschaltet, bislang aber ohne Erfolg. Wir hoffen, dass sich bald jemand findet“, erzählt Denis Thevelin. 

Unter der Woche besucht Etienne eine Ganztagsschule für Kinder mit Beeinträchtigungen. Dort darf er bleiben, bis er sechzehn ist. Über die Zukunft ihres Sohnes denken die Eltern viel nach: „Später wird Etienne wahrscheinlich in einer Werkstatt oder Erwachsenenbetreuung unterkommen. Hoffentlich bleiben wir im Alter fit und können uns so lange wie möglich um ihn kümmern.“ Bis es so weit ist, lebt die Familie von einem Tag zum nächsten und erlebt dabei viel Gutes: „Das Leben mit dem Syndrom hat auch schöne Seiten. Wir lachen im Alltag sehr viel“, erzählt Denis Thevelin. Seine Frau stimmt zu: „Am Ende geht es darum, dass du dein Kind so nehmen kannst, wie es ist. Etienne ist ein unglaublich liebenswertes Kind. Und es ist immer wieder schön, wenn dieser kleine Mensch freudestrahlend auf dich zugewankt kommt.“