Der lange Weg in ein besseres Leben

 

von Sandra Bernhofer

 

Es ist Dezember, eine Woche vor Weihnachten, als wir uns treffen, mitten im wer weiß wievielten Lockdown. Das Straßenzeitungsverkäuferpaar Ramona Miu und Stan Haika aus dem Süden Rumäniens und ich. Und Doris, die uns sprachlich zusammenbringt. Wir haben uns in der Apropos-Redaktion zusammengefunden, an einem ovalen Tisch, der groß genug ist, um Abstand zu halten. Masken tragen wir dennoch. Gleich zu Beginn lässt uns Stan wissen, dass es sein könnte, dass er im Verlauf des Gesprächs müde werde. Vor zwei Jahren hatte er eine Hirnblutung. 21 Tabletten am Tag halten ihn nun auf dem Damm. Die Medikamente machen ihm zu schaffen, schwemmen ihn auf, natürlich kosten sie auch. Seine Konstitution ist nicht die beste. Das Leben als Straßenzeitungsverkäufer geht an die Substanz. Jetzt im Winter kriecht die Kälte in alle Knochen. Abhalten lässt sich Stan davon nicht. „Mehr anziehen“, lautet seine Devise. Er ist froh, dass er wieder in Salzburg sein kann, um das Apropos zu verkaufen.

Sieben Monate hat die Pandemie Ramona und Stan in Rumänien gehalten. Dort haben sie sich als Tagelöhner durchgeschlagen, mit Putzen, was immer sich ergeben hat. Doch selbst zusammen mit dem Kindergeld von gut 100 Euro im Monat war es schwer, über die Runden zu kommen, denn wer ein Auto besitzt, hat in Rumänien keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Die Krux: Auf ein Auto sind die beiden angewiesen, um nach Österreich zu kommen. Und auch, um darin zu schlafen, wenn im Notquartier der Caritas kein Platz mehr ist oder wenn die zwei Wochen voll sind, die man dort am Stück unterkommen kann. Und diese Zeit ist für die beiden abgelaufen, denn so lange sind sie wieder in Salzburg. „Das ganze Leben ist mühsam“, seufzt Ramona. Gerade jetzt. Denn das Geschäft läuft nicht. Gestern hat die junge Frau mit den freundlichen Augen keine einzige Zeitung verkauft. Corona hat auch hierzulande etwas verändert, das kann sie gut verstehen. Die Menschen sind vorsichtiger geworden, das Geld sitzt nicht mehr so locker. Aber ab und zu kommt eine Mitarbeiterin aus dem Supermarkt heraus, vor dem Ramona steht, und bringt ihr warmen Tee. Stan hat indes eine Arbeit gefunden, bei der er 40 Euro am Tag verdient. Aber jeder Tag kann der letzte gewesen sein, an dem er gebraucht wird.

Seit mindestens acht Jahren kommt das Zeitungsverkäuferpaar immer wieder nach Salzburg, seit wann genau, daran erinnern sie sich nicht, die ältere Tochter muss um die zwei Jahre gewesen sein. Eineinhalb Monate sind sie hier, einen Monat dort, immer wieder nehmen sie die zwölf Stunden Fahrt auf sich. Gerade im Sommer, wenn die vier Kinder nicht zur Schule müssen. Der Zeitungsverkauf hat es ihnen erlaubt, ein Häuschen in ihrem Heimatort zu bauen. Am Handy zeigen sie es mir. Sie sind stolz darauf, nicht jeder aus ihren Verhältnissen bringt das zuwege. Gleichzeitig merke ich, dass sich etwas Entschuldigendes in ihren Blick geschlichen hat, denn sie wissen, dass das Haus für österreichische Verhältnisse erschreckend ärmlich wirkt: Es ist einfach, unverputzt, besteht aus nicht viel mehr als Küche und Bad. Geheizt wird mit Holz, der Strom kommt vom Nachbarn, denn eine eigene Leitung zu legen wäre viel zu teuer. Doch das Haus ist sauber, die Innenwände sind in einem charmanten Türkis gestrichen. Auf dem rohen Küchenboden sitzen eng umschlungen zwei Mädchen mit strahlenden Augen. Da wird Ramona traurig, denn die Mädchen musste sie wie auch ihre beiden Buben alleine in Rumänien zurücklassen – immerhin müssen die drei Älteren zur Schule. Denisa ist zwölf, die Kleinste noch keine drei Jahre alt. Stan betont, wie wichtig die Schule ist, damit wenigstens seine Kinder einen Beruf erlernen. Damit sie es einmal besser haben.

Die Perspektiven in Rumänien sind trist. 680 Euro betrug das durchschnittliche Monatsnettoeinkommen 2020, die Lebenskosten liegen je nach Region nicht wesentlich unter jenen in Österreich. Aus keinem anderen EU-Land sind seit 1990 so viele Menschen weggegangen, um woanders zu leben und zu arbeiten. Bis zu einem Viertel der insgesamt 19,6 Millionen Rumänen soll es sein, schätzt die Weltbank. Lieber für einen Hungerlohn nach Deutschland oder Österreich als ein Leben in Rumänien. Man merkt es selbst, wenn man durch das Land fährt, durch abgehängte Regionen mit Industrie-Ruinen aus der Zeit des Kommunismus. Aber auch durch Gegenden, die sich kaum merklich von jenen in Österreich unterscheiden. In den vergangenen Jahren hat sich Rumänien dank einer jungen Bildungselite nämlich zu einem Top-Standort der IT-Branche gemausert. Ramona, die 1990 geboren wurde, und Stan, Jahrgang 1984, sind aber Teil einer verlorenen Generation. Ihre Schulbildung beschränkt sich auf fünf bzw. vier Jahre. Selbst das Lesen und Schreiben falle ihm schwer, sagt Stan. Das Paar erzählt viel. Man merkt: Diese beiden sind froh, dass da jemand ist, der sie verstehen kann. Doris kommt gar nicht nach mit dem Übersetzen.

Immer wieder kehrt die Sprache auf die Kinder zurück. Mit sechs Packungen Polenta, einem Sack Kartoffeln und etwas Sauerkraut mussten die beiden sie zurücklassen. Einfaches Essen, das die Kinder drei Wochen durchbringen soll, bis die Eltern wieder da sind. Wenn sie am Abend telefonieren und die Kleinste fragt, was sie heute gegessen habe, bekommt Ramona ein schlechtes Gewissen. Schon seit Beginn des Gesprächs zögert sie, in den Keksteller zu langen, den sie vor sich auf dem Tisch stehen hat. „Wie soll ich essen? Meine Kinder hungern“, sagt sie. „Dass ich heute Kekse bekommen habe, das darf ich ihnen gar nicht erzählen.“ Dann lacht sie doch, so absurd ist die Situation. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, dass die Kinder in Salzburg aufwachsen und in die Schule gehen können. Die Lebenshaltungskosten machen das aber unmöglich. Und: ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung kein Job. „Es ist schwierig“, seufzt sie. So schnell, wie ein Schatten über ihr Gesicht zieht, verflüchtigt er sich wieder. Gerade wenn Ramona über die Kinder spricht, leuchten ihre Augen. Die Liebe zur Familie und auch ihr Glaube sind das Letzte, was bleibt, wenn Hunger und Kälte sich an die Fersen der Straßenzeitungsverkäufer heften. Nach fast zwei Stunden in der Wärme der Apropos-Redaktion geht es für Ramona und Stan wieder hinaus in den frostigen Dezember. Vielleicht haben sie heute doch noch Glück. Die drei Wochen in Salzburg sollen nicht vergebens gewesen sein, wenn sie am 24. Dezember die Heimreise zu ihren Kindern antreten.*

*Mittlerweile sind Ramona und Stan wieder in Salzburg