Die späte Entdeckung der Häuslichkeit
Einige gute Menschen und viel Selbstdisziplin haben Apropos-Verkäufer Kurt Mayer vor dem völligen Absturz bewahrt. Sein spätes Lebensglück hegt er wie ein zartes Pflänzchen und teilt es großzügig.
von Wilhelm Ortmayr
Über Kurt ist in diesem Magazin, aber auch anderswo, schon viel geschrieben worden. So viel, dass man meint, den 62-Jährigen schon zu kennen, bevor man ihm erstmals persönlich begegnet. Zum Interview für diesen Artikel, das dann wie selbstverständlich kein Interview im klassischen Sinn wird, sondern ein langes Gespräch.
Kurt hat viel zu erzählen, denn einer wie er kennt das Leben wirklich. Von allen Seiten, auch den ganz grauslichen. Dazu gehört die Mutter, die ihr Kind weggibt, und die er erst als über 40-Jähriger „kennenlernt“. Tatsächlich bleibt sie ihm bei den wenigen Treffen, die dann folgen, anhaltend fremd. Seinem Erzeuger begegnet Kurt früher, doch der verleugnet sich vor dem eigenen Kind. Dieses verbringt seine Jugend in Heimen, geprägt von Schlägen und Misshandlungen, getrieben von der Suche nach der Mutter. Man erzählt ihm, sie sei ausgewandert, doch er spürt, dass diese Lüge ihn nur ruhigstellen soll.
In der Bäckerlehre gefällt es Kurt gut, er ist tüchtig, doch eine Mehlallergie verhindert seinen Verbleib. Die Karriere als Hilfsarbeiter, unstet und prekär, ist da schon vorgezeichnet, das Abgleiten zum Alkohol, den Drogen und der Obdachlosigkeit ebenso. Kurt selbst schildert sein damaliges Leben als rastlos. Nirgendwo konnte und wollte er länger bleiben. Ein Herumgetriebensein ohne Halt und Hoffnung, zumindest keiner realen.
Der Kurt Mayer von heute erzählt über diese Zeit verblüffend emotionslos. Nicht so, als wäre es nicht seine eigene Geschichte, aber doch mit nebelartigem Abstand. Der resultiert wohl aus dem Glücksgefühl, es aus dieser Spirale herausgeschafft zu haben, heute besser zu leben. Kurts Augen beginnen zu leuchten, wenn seine Erzählungen vom Damals ins Jetzt gleiten und er über sein Leben in der eigenen kleinen Wohnung in Itzling erzählt. Bescheiden, aber doch materiell abgesichert durch seine kleine Pension und die Erlöse aus dem Apropos-Verkauf.
Der Weg dorthin war kein kurzer, es gab Erfolge ebenso wie Rückschläge und geschenkt wurde Kurt sowieso nichts. Kurzzeitig sesshaft, folgten immer wieder lange Phasen des Herumziehens. Sich nicht um die Miete oder Stromrechnung kümmern zu müssen, war für Kurt damals ein Stück Freiheit, ein Stück „seines“ Lebens. Er, die nie ein Zuhause hatte, empfand „unterwegs sein“ als sein Leben. Trotz aller selbstzerstörerischen Folgen.
Vor mitterweile gut 16 Jahren sei er dann wirklich am Ende gewesen, ständig geplagt von schweren Krämpfen und chronischen Bauchschmerzen. Eines Tages habe er, irgendwo in der Mitte der Alpenstraße, einen Entschluss gefasst, sich in die nächstbeste Arztpraxis geschleppt und dort verkündet, er wolle mit dem Trinken aufhören. Eine Stunde später, nach einem langen Arztgespräch, war er auf dem Weg in die Christian-Doppler-Klinik. Der Entzug gelang. „Wahrscheinlich hab‘ ich damals gespürt, dass das meine letzte Chance ist, auch wenn es mir im Moment gar nicht bewusst war.
Davor hatte er lange Zeit am beziehungsweise unter dem Mozartsteg „gewohnt“, wenn es in der Notschlafstelle wieder mal Streit oder Probleme wegen des Alkohols gegeben hatte. Der Mozartsteg war damals auch sein „Arbeitsplatz“, schon dort hat er „Apropos“ verkauft. Mit zwei seiner Zeitungskunden aus diesen Zeiten telefoniert er heute noch regelmäßig. Leider hat er seinen einstigen „Stammplatz“ an der Salzach vor einigen Jahren „verloren“, sprich er ist von Bettlergruppen sehr handfest von dort vertrieben worden.
Als er es seinerzeit geschafft hatte, trocken zu werden, blieb Kurt dem Mozartsteg als Arbeitsplatz treu – vielleicht auch weil er dort wenig später sein „großes Glück“ gefunden hatte. Eine „Gefährtin“, die ihm Halt gibt und ihn versteht. Wenn Kurt von ihr spricht, wird seine Stimme ganz weich und seine Wortwahl noch gewählter, fast zärtlich. Er, der nie große Beziehungen pflegte oder wirklich enge Freunde hatte, geht nun schon seit mehr als zehn Jahren zu zweit durchs Leben. Man wohnt nicht gemeinsam, sieht einander aber regelmäßig, mehrmals die Woche. Kurts Partnerin sieht und hört krankheitsbedingt sehr schlecht, doch das beeinträchtigt das Gefühl des „sich angenommen Fühlens“ überhaupt nicht. „Wir nehmen uns gegenseitig, wie wir sind“.
Der zweite große Halt in Kurts Leben von heute ist seine Wohnung. „Als ich endlich trocken war und wieder Zeitungen verkaufte, war mir sehr schnell klar: Ich muss raus aus dem Milieu“, erzählt der gebürtige Vorarlberger. Das kleine Zimmer in einer Art Notunterkunft, umgeben von prekär lebenden Männern, teils alkoholkrank, konnte für ihn keine Dauerlösung sein. Zu groß war die Angst wieder abzustürzen. Über Zeitungskunden mit guten Kontakten kam er zu seiner heutigen Wohnung. „Die war völlig leer. Keine Küche, keine Möbel, nichts. Das erste Jahr habe ich am Boden geschlafen, auf einer uralten Matratze, nach einigen Wochen hatte ich wenigstens einen kleinen Tisch und einen Sessel.“
Durch den Verkauf von „Apropos“, der die Mindestpension aufbessert, ist die Garconniere heute hübsch eingerichtet und so etwas wie Kurts „zweite“ Welt. „Ich bin nach wie vor gerne unterwegs, eigentlich den ganzen Tag, aber um fünf Uhr komme ich nach Hause, schließe die Türe und kann alles hinter mir lassen. Da trete ich in eine andere Welt, das ist wunderbar“, erzählt Kurt über sein Leben in den eigenen vier Wänden. Er kocht gerne (und mit wachsender Bravour), er liest, sieht fern. „Ich war nie irgendwo daheim. Erst spät bin ich draufgekommen, dass ich eigentlich ein häuslicher Typ bin, schildert Kurt. „Meine Wohnung zu verlieren, wäre das Schlimmste, das ich mir vorstellen kann. Sie ist die Basis für ein gutes Leben“, sagt Kurt und er tut alles, um sie zu behalten: „Vor dem 8. jedes Monats gebe ich so gut wie kein Geld aus. An diesem Tag wird Miete und Strom abgebucht“. Erst danach leistet sich Kurt größere Einkäufe oder Anschaffungen.
Derzeit aber muss Kurt diesbezüglich kürzertreten. Und zwar wörtlich. Der Verkauf von Apropos ruht derzeit, denn seine Beine machen nicht mehr mit. „Ich konnte keine 100 Meter gehen, ohne mich hinsetzen zu müssen. Alles war völlig verkalkt, die Beine kaum noch durchblutet – eine Spätfolge der Suchtjahre“, erzählt Kurt. Auf die Operation, die Abhilfe schafft, musste er monatelang warten. Immer wieder wurde der Eingriff verschoben. Menschen mit Kurts Geschichte stehen in unserem Gesundheitssystem nicht in der vordersten Reihe. Mittlerweile aber ist das erste Bein operiert und sobald Kurt „beidbeinig“ fit und mobil ist, möchte er sofort wieder mit dem Zeitungsverkauf beginnen.
Sein neuer Stammplatz ist der Europark. Ein gutes Pflaster, das sich aber auch „sehr verändert“ habe, meint Kurt. Er ist ein guter Beobachter und sieht, dass die Pandemie die Menschen verändert hat. Man geht nicht mehr so offen aufeinander zu, die Menschen seien „vorsichtiger, zugeknöpfter“ als vor Covid.
Das hindert ihn freilich nicht, im Europark seiner „Doppelfunktion“ nachzukommen: „Einige Menschen kommen nicht nur wegen des Apropos zu mir. Vor allem wollen sie reden, manche sogar regelrecht ihr Herz ausschütten.“ Dann, so erzählt Kurt, stelle er den Verkauf ein, klappe seine Zeitungsmappe zu, und signalisiere damit etwaigen Käufern, sie mögen, wenn möglich, doch ein wenig später wiederkommen. „Fast all meine Kunden akzeptieren das, weil sie wissen: Menschen, die Sorgen und Probleme haben, darf man nicht wegschicken“.