Ein buntes Bild, wo alles Platz hat
Sich nicht von Familienklischees gefangen nehmen zu lassen, sondern die ganz individuelle, passende Form von Familie für sich zu finden – das empfiehlt die Leiterin des Kindertrauma-Instituts, Rose-Marie Wellek Mestian. Was es für ein gutes Aufwachsen braucht, dass Familie nicht unbedingt Verwandtschaft bedeuten muss und an welche Familien-Momente sie selbst gerne zurückdenkt, erzählt die langjährige Familientherapeutin im vorweihnachtlichen Apropos-Interview.
Titelinterview mit Rose-Marie Wellek Mestian
von Monika Pink
Frau Wellek Mestian, wer gehört bei Ihnen zur Familie?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich lebe in einer Patchworkfamilie, wir haben insgesamt fünf Kinder und drei Enkelkinder. Ich würde den Begriff Familie aber noch weiter ausdehnen, natürlich sind auch unsere zwei Hunde und unsere Katze Teil der Familie. Für mich gehören in gewisser Weise auch Freunde zur Familie, also Menschen, denen ich mich nahe fühle, Menschen, zu denen es eine Herzensverbindung gibt – egal ob eine Blutsverwandtschaft besteht oder nicht.
Was sind es denn für Qualitäten, die in einer Familie wichtig sind?
Rose-Marie Wellek Mestian: Zum einen, denke ich mir, ist es Verbindlichkeit, zu wissen, dass die Menschen einfach da sind, wenn man sie braucht. Und dass man umgekehrt auch selber da ist, wenn man gebraucht wird. Was diese Herzensverbindung betrifft, so ist die für mich nicht unbedingt an quantitative Zeit gebunden, sondern eher qualitativ. Das können Menschen sein, die man vielleicht gar nicht so oft sieht. Aber trotzdem, wenn man sich sieht, hat man das Gefühl, es ist gar keine Zeit dazwischen vergangen.
Sie arbeiten schon sehr lange mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Hat sich in dieser Zeit etwas am Familienbild in der Gesellschaft geändert?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich habe schon das Gefühl, dass es viel offener diskutiert wird oder auch gesehen wird, dass Familie nicht nur leiblicher Vater und leibliche Mutter bedeuten muss. Gerade in meinem Bereich habe ich mit vielen Patchworkfamilien oder anderen Formen von Familien zu tun, zum Beispiel mit Jugendlichen, die zwei Mütter haben.
Trotzdem wünschen sich laut Studien die meisten Menschen für sich selbst die klassische „Normfamilie“ mit Vater-Mutter-Kind(ern). Ist das nicht ein großer Druck, den man sich da auferlegt?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ja, doch auch hier erlebe ich Jugendliche viel offener, wenn sie zum Beispiel sagen: „Es ist zwar schlimm, dass ich meinen leiblichen Vater nie kennengelernt habe, aber ich habe einen ganz tollen Stiefpapa. Der ersetzt mir vielleicht nicht den Papa, aber gibt mir das, was mir mein eigener Papa scheinbar nicht geben konnte.“ Diese Person ist im Wert dann auch viel wichtiger als ein Blutsverwandter oder als der Erzeuger.
Was ist es, was die Bezugspersonen geben können, was braucht es für ein gutes Aufwachsen?
Rose-Marie Wellek Mestian: Es braucht Menschen im Umfeld, die die Kinder und Jugendlichen wichtig und ernst nehmen. Die versuchen zu verstehen, wie ein Kind oder ein Jugendlicher denkt oder die Situation sieht. Die ihnen das Gefühl geben: So wie du bist, bist du in Ordnung. Ich bin für dich da. Was ich auch ganz wichtig finde, ist die Einstellung: Wenn du etwas Falsches machst, dann bist du nicht falsch! Die Sache ist vielleicht nicht in Ordnung gewesen, aber du bist richtig als Person, und trotz allem liebe ich dich.
Das klingt einfacher, als es ist…
Rose-Marie Wellek Mestian: Ja, das Thema ist zwiegespalten. Auf der einen Seite wird Familie glorifiziert als der Ort, wo man sich geborgen fühlt und zu Hause ist. Und auf der anderen Seite ist es oft auch der Ort des größten Schreckens, wo die schlimmsten Dinge passieren oder belastende Erinnerungen bleiben. Diese zwei Seiten des Zuhause, also einerseits die äußere Sicherheit und andererseits die Schwere durch eine belastende Situation, erleben, glaube ich, viele Kinder.
Wie können Sie da als systemische Familientherapeutin helfen?
Rose-Marie Wellek Mestian: Wir sehen da nicht nur den Klienten oder die Klientin, die bei uns sitzt, sondern wir haben immer auch das gesamte System im Blickfeld, also die Familie und die erweiterte Familie. Wir schauen, was die Gründe für die Konflikte sind, ganz ohne Schuldzuweisungen. Wenn Eltern unangemessen auf Kinder reagieren, dann machen sie das ja nicht, um ihrem Kind zu schaden, sondern sie haben ihre eigenen Belastungen, die sie mittragen. Und da ist es unsere Aufgabe, Lösungen zu finden, wie es gelingen kann, dass das Zuhause wieder ein Ort der liebevollen, freundlichen Begegnungen und der Wertschätzung wird.
Liegen die Ursachen immer im System Familie?
Rose-Marie Wellek Mestian: Nein, belastende Kindheitserfahrungen können auch medizinische Eingriffe gewesen sein oder Situationen von außen, Mobbingsituationen oder vieles mehr. Aber es gibt immer Ursachen, die zu der Symptomatik geführt haben, die im System Familie Schwierigkeiten bereitet. Wenn man Eltern darüber aufklärt, dass mit dem Aufarbeiten dieser belastenden Kindheitserfahrungen oftmals auch die Symptomatik verschwindet und damit auch die Belastung des Systems deutlich weniger wird, ist das für viele schon sehr hilfreich.
Und wenn die Situation oder die Kindheit schon längst vorbei, aber die belastende Erinnerung noch da ist?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich bin ja auch Traumatherapeutin und arbeite da mit einer speziellen Methode, EMDR1 . Erst unlängst hatte ich eine Klientin, bei der eine gewisse Gegend und bestimmte Häuser beim Heimfahren jedes Mal eine Melancholie und Schwere ausgelöst haben. Das war ihr Bild vom Zuhause, wie sie es als Kind erlebt hat. Zum einen hat sie sich gefreut, wieder nach Hause zu kommen, zum anderen hat sie aber diese Schwere erlebt, weil ihr Bruder jung verstorben ist, beide Eltern dann schwer depressiv waren und es auch mit der Großmutter schwierig war. Da kann man nur daran arbeiten, anzuerkennen, dass es so war, dass es vorbei ist und dass man sich in dem Zuhause, in den man jetzt ist, diesen Ort der Geborgenheit selber schafft, mit der eigenen Familie.
Leider speichert unser Gehirn negative Erinnerungen eher als positive…
Rose-Marie Wellek Mestian: Ja, das ist etwas Archaisches, Lebensnotwendiges, dass sich der Jäger erinnert: Wo ist denn die Höhle vom Säbelzahntiger, welchen Weg muss ich anders wählen? Aber wir können unser Gehirn auch umpolen, wir können uns ganz bewusst die positiven Dinge herholen. Dankbarkeit ist für mich da etwas ganz Wesentliches. Ich kenne einige Mütter, die sagen: Ich lege mich jeden Abend mit meinem Kind ins Bett, und wir überlegen gemeinsam, wofür das Kind oder wofür wir gemeinsam dankbar sind. Damit lege ich eine andere Spur im Gehirn. Und ich bin mir sicher, dass dieses Kind auch besser schlafen und besser träumen wird.
Warum ist das, was sich in der Familie abspielt, so oft tabu und warum fällt es schwer, darüber zu reden, wenn etwas nicht funktioniert?
Rose-Marie Wellek Mestian: Möglicherweise gibt es hier hohe Ansprüche, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind, so in die Richtung: Das muss man doch einfach können. Und gerade belastete Familien, die haben selber vielleicht kaum erlebt, dass sie Hilfe annehmen dürfen. Deswegen tun sie sich meist so schwer oder warten zu lange, bis sie sich Hilfe von außen holen. Verbunden oft auch mit der Angst, mir könnten die Kinder weggenommen werden, wenn ich Hilfe annehme.
Auch weil man nicht gern zugibt, eine Therapie zu brauchen?
Rose-Marie Wellek Mestian: Das muss gar nicht immer eine therapeutische Hilfe sein, das kann auch sozialpädagogische oder sozialarbeiterische Hilfe sein, das kann Unterstützung von Beratungslehrer:innen in der Schule sein, es gibt viele Anlaufstellen. Die therapeutische Hilfe ist aus meiner Sicht die Spitze, dann sozusagen, wenn alles andere nicht mehr hilft.
Ich habe das Gefühl, dass viel gesellschaftlicher Druck auf den Familien lastet. Und gleichzeitig scheint die Familie so unantastbar. Sehen Sie das auch so?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich denke, wie gut es den Familien geht, hängt natürlich von der Gesellschaft und der Politik ab. Wie gut werden sie unterstützt, wie sehr sind sie im Fokus? Wenn es sich finanziell nur ausgeht, wenn beide Eltern arbeiten, bleibt oft wenig Zeit für die Familie. Auf der anderen Seite lastet sehr viel auf den Familien, weil die Schule viel auf sie abwälzt. Wenn Eltern nicht so viel Lernunterstützung für ihre Kinder leisten würden, könnten viele Kinder das nicht so gut meistern. Und damit haben wir wieder die Spaltung, denn die Eltern, die das vielleicht kognitiv oder aufgrund von anderen Belastungen nicht schaffen, können ihren Kindern diese Unterstützung nicht geben. Da entsteht ein großes Ungleichgewicht.
Wie kam es dazu, dass Sie Familientherapeutin geworden sind?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich bin ja in meinem Ursprungsberuf Elementarpädagogin gewesen und immer, wenn ich an einem Punkt angelangt bin, wo mir das Handwerkszeug gefehlt hat, habe ich mich gefragt: Was fehlt denn diesen Kindern? Was bräuchten sie denn? So habe ich eben Pädagogik studiert. Und Traumatherapeutin bin ich geworden, weil ich die Not und meine Hilflosigkeit bei schwer traumatisierten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen erlebt habe, mit denen ich gearbeitet habe. So etwas hat mich immer wieder motiviert, die nächsten Bausteine zu machen. Jetzt bin ich in der Fortbildung und lehre Kolleg:innen die Methode, damit möglichst viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene traumafokussierte Psychotherapie in Anspruch nehmen können.
Sie haben auch zwei Therapiehunde. Welche Bedeutung spielen Tiere in der Therapie?
Rose-Marie Wellek Mestian: In der Therapie fragen wir immer nach Ressourcen: Was gibt es denn in deinem Leben, was wertvoll ist, was dir hilft? Ganz viele Kinder, aber auch Erwachsene, wenn sie rückblickend auf ihre Kindheit schauen, sagen dann: Ja, da gab es ein Tier in unserer Familie, das habe ich dann gestreichelt, dem habe ich meine Probleme erzählt und da hab ich weinen können… Und wenn die Bindung zu Erwachsenen oder zu Menschen schwierig ist, kann die Bindung zu einem Tier da oft sehr viele Wunden zumindest leichter machen.
Womit wir wieder beim Tier als Familienmitglied wären…
Rose-Marie Wellek Mestian: Professor Anton Bucher hat in seiner Kinderglück-Studie quer durch alle Familienkonstellationen und Milieus herausgefunden, dass ein Tier einer der wichtigsten Glücksfaktoren für Kinder ist. Es gibt ja auch Studien, dass das Streicheln von Tieren das „Kuschelhormon“ Oxytocin fördert.
Was verändert sich im Laufe eines Familienlebens, was bleibt konstant?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich denke, im besten Fall wäre es so, dass die Bindung das ist, was in der Grundstruktur immer bleibt. Was sich verändert, ist die Frequenz. Das Bindungssystem wird immer dann aktiviert, wenn man in Notsituationen kommt, und natürlich ist das von der Frequenz her viel intensiver, je jünger die Kinder sind. Die kommen oft mehrmals am Tag in Situationen, wo sie Mama oder Papa brauchen und dann das Gefühl bekommen sollen: Ich bin da und ich helfe dir. Bei älteren Kindern ist es so, dass vielleicht auch Monate vergehen oder Jahre, in denen sie wissen, dieses Band ist da, und wenn ich in eine schwierige Situation komme, dann kann an das Bindungssystem wieder angedockt werden.
Ist es immer so einfach, Hilfe anzunehmen?
Rose-Marie Wellek Mestian: Natürlich braucht es zwei Seiten, die einen, die das Angebot geben, und die anderen, die das Angebot auch annehmen. Es ist ein Kriterium einer sicheren Bindung, dass man auch Hilfe annehmen kann. Da, finde ich, sind Eltern natürlich auch immer ein Vorbild. Wie erleben die Kinder ihre Eltern, haben sie Freunde, haben sie ein Netzwerk, holen sie sich Hilfe, wenn sie Hilfe brauchen?
Das Modell-Lernen ist einfach und nach wie vor das Allerwichtigste. Ein anderes gutes Beispiel dafür ist auch die Streitkultur: Wie wird gestritten, wie werden Konflikte ausgetragen in einer Familie?
Apropos Streitkultur: Familie und Weihnachten ist ja auch so ein Thema. Alle sehnen sich nach Idylle und dann treten die Konflikte auf. Haben Sie Tipps, wie man da gut durchkommt?
Rose-Marie Wellek Mestian: Ich denke, man sollte sich von diesem Klischee nicht so gefangen nehmen lassen. Familien sollten mehr den Mut haben, Weihnachten so zu feiern oder diesen Abend so zu verbringen, wie es für sie als Familie passt. Im Grunde genommen ist es das Schönste für alle, dass man füreinander da ist und miteinander Zeit verbringt, und ob da jetzt der Weihnachtsputz gemacht ist oder 15 Sorten Kekse gebacken sind, ist doch unerheblich. Und wenn es stressig ist, sich vielleicht den einen oder anderen Stress- Regulationsmechanismus aneignen, wie tief durchatmen, eine Runde ums Haus gehen, bevor es irgendwie eskaliert.
An welche Familien-Momente denken Sie am liebsten zurück?
Rose-Marie Wellek Mestian: Immer dann, wenn gelacht wird! Wir haben zu Weihnachten einmal probiert, „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen, und unser älterer Hund hat damals fürchterlich zu heulen begonnen. Offensichtlich haben wir so grottenschlecht gesungen. Das sind Momente, an die ich gern zurückdenke.
Wenn Sie die „heilige Familie“ aus der Sicht der Therapeutin betrachten, wo würden Sie ansetzen?
Rose-Marie Wellek Mestian: Die gibt es nicht, die „heilige Familie“! Und ich glaube, es ist auch entlastend zu sagen, jede Familie ist individuell, wie unser Fingerabdruck individuell ist. Und jede Familie muss für sich die Form finden, wie es passend ist, und sich nicht an einem Modell orientieren, das es wahrscheinlich nur am Papier gibt. Für mich ist Familie ganz ein buntes Bild, wo alles Platz hat – mit Herzensverbundenheit, Authentizität, Ehrlichkeit, und die Menschen annehmen, so wie sie sind. Und sie kann klein sein, kann groß sein, kann vielfältig sein und völlig unabhängig von Geschlechtern.