
Ein Name in der Haut, die Familie im Herzen
von Sandra Bernhofer
Nein, im Gefängnis war er nie, meint Dumitru Onica und lacht, während er über seinen ledrigen Handrücken streicht. Darüber zieht sich ein Spinnennetz aus verblassten, handgestochenen Tattoos – Buchstaben, die eine Geschichte erzählen. Nicht aus dunklen Zellen, sondern aus seiner Jugend: Es ist der Name seiner damaligen Freundin, den er sich da als 16-Jähriger in seine Haut eingeschrieben hat – Lenuta. Fast ein halbes Jahrhundert und sieben gemeinsame Kinder später ist diese Frau nach wie vor an seiner Seite. Manchmal zumindest. Denn Lenuta wartet zu Hause in Țițești, einem Dorf mit 5000 Einwohnern im südlichen Rumänien, während Dumitru Onica selbst in Salzburg die Straßenzeitung Apropos verkauft, um seine Familie zu ernähren.
Acht Jahre lang besuchte Dumitru Onica im kommunistischen Rumänien die Schule, war ein eifriger Lerner. Ein Privileg, denn vielen, die das Apropos verkaufen, fällt selbst das Lesen und Schreiben schwer. Doch die politischen Umbrüche nach dem Sturz von Diktator Nicolae Ceaușescu rissen ihm den Boden unter den Füßen weg. Er verlor seinen Posten in der Autoindustrie. Die einst florierenden Fabriken verfielen, und mit ihnen die Zukunftsperspektiven. Dumitru Onica muss improvisieren, wird zum Überlebenskünstler: Jahrelang schlägt er sich als Tagelöhner durch, transportiert mit seinem Pferdefuhrwerk, was immer anfällt, verkauft, was immer sich verkaufen lässt. Bis er nach Salzburg kommt, um die Existenz seiner Familie zu sichern.
Seit 2011 ist er Apropos-Verkäufer. Inzwischen hat er seinen Stammplatz vor dem Spar in Elixhausen gefunden. Jeden Morgen fährt er mit dem Postbus dorthin, eine gute halbe Stunde. Dort macht ihm niemand seine Stellung streitig, nur selten wird er von der Polizei kontrolliert, die Chefitäten wissen, dass der ältere Herr mit dem gutmütigen, ehrlichen Lächeln niemand ist, der die Leute vor dem Supermarkt bedrängt oder anbettelt. Sein Holzstuhl, den die Mitarbeiter:innen für ihn wohlwollend über Nacht verwahrt, wartet schon auf ihn. Dann sitzt er still und wartet auf Kundschaft. Im Winter wärmt er sich mit einer Decke über den Knien. Arthrose macht ihm zu schaffen. Manchmal sackt er einfach weg. „Das macht der Diabetes“, erklärt er. „Ich trinke nicht und rauche nicht. Aber da schlafe ich, als hätte ich den Rausch meines Lebens“, erzählt er. Auch mit Gallensteinen hat er zu kämpfen, Nierensteinen. Magen und Leber rebellieren, wenn er ihnen allzu Deftiges zuführt. Die Liste seiner Gebrechen ist schier nicht enden wollend. Ein Leben auf der Straße geht an die Substanz.
Dennoch – ansehen tut man es Dumitru Onica nicht, dass er in Salzburg keine feste Wohnadresse hat. Der Schnauzer ist akkurat gestutzt, die Kleidung gut in Schuss. Auch wenn die Geschichten, die sich das Schicksal für ihn ausgedacht hat, alles andere als rosig klingen, blitzen seine Augen, zucken die Lachfältchen in seinem Gesicht; jede seiner Bewegungen ist weich und bedächtig: Mit 65 Jahren trägt er die Verantwortung für Generationen. Seine Frau, seinen jüngsten Sohn Jeremia und dessen vierjährigen Spross, der in Dumitrus Haus groß wird. Oft käme es zu Konflikten mit dem Sohn, der ganz eigene Vorstellungen davon habe, wie das Leben aussehen soll: moderner, mit fließendem Wasser, einem richtigen Badezimmer. Ein Komfort, den der Straßenzeitungsverkäufer seiner Familie schlicht nicht bieten kann. Er sei froh, dass er zumindest das Dach erneuern lassen konnte, erzählt er. Die 6000 Euro Schulden, die er dafür angehäuft hat, muss er nun mühsam abstottern. Er sorgt sich um die Zukunft seiner Familie: „Was wird sein, wenn ich eines Tages nicht mehr kann?“ Alle paar Tage telefoniert er mit seiner Frau Lenuta. Die Trennung verkraftet sie nur schwer, sie ist in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung, halbseitig gelähmt, mit dem Enkel überfordert. Er bekommt den Stress mit, unter dem seine Frau steht, ihre Traurigkeit. Aber helfen kann er nicht. Einer müsse sich um das Überleben der Familie kümmern. Immer wieder schickt er Bekannten aus seinem Dorf, die nach Hause fahren, Dinge für die Daheimgebliebenen mit: Lebensmittel, Kleidung, Windeln, Spielzeug für die Enkel.
Ab und zu kramt der Apropos-Verkäufer aus seiner schwarzen Aktentasche ein Handy hervor, um Fotos zu zeigen. Seine Frau und der Enkel in Rumänien. Er selbst nach seiner Nierensteinoperation im Krankenhaus. Seine Baraca, wie er sie nennt: ein Holzverschlag unter der Autobahnbrücke auf einer abgelegenen Brache irgendwo am Stadtrand von Salzburg, den er sich aus herumliegenden Brettern gezimmert hat und der über die Jahre auf drei Zimmer angewachsen ist. Auch hier in der Nachbarschaft kennt man den ruhigen älteren Herrn, duldet ihn, beschenkt ihn mit Nützlichem: ein Kühlschrank, der zwar ohne Strom nicht kühlt, aber immerhin im Sommer die Fliegen von seinen Lebensmitteln fernhält. Ein kleiner Holzofen. Bunte Fleecedecken, mit denen er die Räume seiner Unterkunft komplett ausgekleidet hat. Im Sommer mäht Dumitru Onica dafür die Wiese rundum mit der Sense. „Eine Hand wäscht die andere“, sagt er.
Die selbstgebaute Unterkunft teilt er sich mit seiner Tochter, seiner Schwägerin und zwei Bekannten. Wenn diese nicht in Salzburg sind, so wie jetzt, nutzt er die Notschlafstelle der Caritas. Dort ist es sicherer, so ganz allein. Und doch hat die Nähe zu anderen Menschen ihre Tücken: Es ist laut, Sanitäranlagen und Küche benutzen 70 Menschen, die beim gemeinsamen Kochen auf rustikale Gerichte setzen – für seine Gesundheit nicht gerade förderlich. Lieber kocht er allein für sich etwas Bekömmliches auf einem Grillrost über Holzkohle. Polenta mit Hühnchen und Gemüse am Sonntag, einen Salat aus Tomaten, Gurken und Zwiebeln unter der Woche.
Dumitru Onica ist ein Mensch, der seine Autonomie schätzt, der niemandem zur Last fallen will. Der ältere Sohn lebt zwar in Salzburg, mit drei Kindern und seiner Frau. Aber nicht einmal zu Weihnachten will Dumitru ihn in dessen Wohnung behelligen. Dass der Vater im Krankenhaus war, um sich Nierensteine entfernen zu lassen, hatte dieser erst von Bekannten erfragt. Immer wieder ruft er an, um nachzufragen, ob alles in Ordnung ist. Und das ist es im Großen und Ganzen – trotz aller Härten. „Ich komme mit allen gut aus, hatte nie Probleme, seitdem ich in Österreich bin“, sagt Dumitru Onica. „Dafür bin ich dankbar. Und auch für all die Menschen, die mich unterstützen, für die Arbeit mit der Straßenzeitung, die mir und meiner Familie das Überleben sichert.“