Gutes Essen für alle?
von Wilhelm Ortmayr
Kennen Sie die 17 SDGs? Nein? Macht nichts. Damit gehören Sie zu einer großen Mehrheit.
Die UNO hat sie erfunden, die 17 „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals – SDG). Jedes einzelne davon kann man getrost unterschreiben, denn ihre Realisierung würde für viele Menschen auf dieser Erde ein weit besseres Leben bedeuten. Das Problem der 17 SDGs ist eher das, was nicht drinsteht. Jene Punkte also, die (etwa aus diplomatischen Gründen) nicht angesprochen werden, vor allem alle Hürden, die beseitigt werden müssten, um den 17 Zielen näher zu kommen. Die UNO wollte die „Verhinderer“ nicht beim Namen nennen.
Dennoch ist das Glas halbvoll. Zumindest wenn man eine gute Idee hat, was man mit Entwicklungszielen machen könnte. ICOM Österreich, die größte heimische Organisation der Museen und Museumsfachleute, hatte eine solche. Damit Museen nicht einfach nur Orte sind, wo Menschen sich in aller Stille Dinge ansehen, sondern wo auch Dialog und Veränderung stattfinden, haben 17 Museen konkrete Projekte zu jeweils einem der Nachhaltigkeitsziele erarbeitet. Das Salzburger Museum der Moderne und das Freilichtmuseum Großgmain nutzen in diesem Rahmen den 16. Oktober, den Welternährungstag, um sich mit einer Podiumsdiskussion, Infoständen und vielen klugen Aktionen dem Nachhaltigkeitsziel Nummer zwei zu widmen: kein Hunger.
Das ist kein unspannendes Thema, zumal in einer reichen Stadt wie Salzburg. Dort wird nur zu gerne übersehen, dass die Zahl der Menschen, die in SOMA-Sozialmärkten kaufen (weil sie dort kaufen müssen), seit Pandemiebeginn um ein Drittel gestiegen ist. Ähnlich das Bild im Flachgau. Die Hauptbetroffenen sind alleinerziehende Frauen mit Kindern, alleinstehende Pensionisten und Pensionistinnen, aber auch jüngere Personen.
Denn – ganz ohne Zweifel: Nachhaltigkeitsziel zwei (kein Hunger) ist der Zwilling von Ziel eins: Armut verhindern. Weltweit wie lokal. Laut Caritas-Direktor Johannes Dines sind in Salzburg 6000 Menschen manifest arm, darunter immer mehr Frauen, die in die Altersarmut rutschen. Doch die Armutsgefahr steigt in fast allen Bevölkerungsgruppen stetig, wegen Covid, der Digitalisierung, der Veränderungen am Arbeitsmarkt. Auch rechtliche Rahmenbedingungen spielen dabei eine Rolle. Die gesetzliche Sozialunterstützung beispielsweise fördert den Wohnbedarf der Menschen besser als früher, den täglichen Lebensbedarf aber schlechter. Das spürt man bei jedem Einkauf. Die Reserven vieler Menschen am unteren Einkommensrand sind aufgebraucht, steigende Betriebskosten werden für immer mehr Haushalte zum Existenzproblem.
Noch klagen die Betreiber der Sozialmärkte wie etwa die Flachgauer Tafel nicht über Versorgungsengpässe. Aus den Kooperations-Supermärkten komme nach wie vor genug Ware. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Viel größere Mengen landen im Müll, obwohl sie nicht signifikant schlechter sind als das, was in den Sozialmärkten landet.
Es ärgert, Stichwort Nachhaltigkeit, jeden Vernünftigen maßlos, wie viel an erstklassigen Lebensmitteln täglich nach 19 Uhr in den Mülltonnen der Einzelhändler landet. Weil es weggeworfen werden muss, dazu zwingen Gesetze und Verordnungen, die zum Schutz der Konsumenten erfunden wurden. Über 100.000 Tonnen einwandfreie Lebensmittel landen in Österreich jährlich im Müll. Pro Haushalt und Jahr sind das Lebensmittel im Wert von nahezu 400 Euro. Wir produzieren zu viel und schaffen es nicht, wenigstens Teile davon an jene zu bringen, die zu wenig haben.
Diskussionen über „Hunger“ laufen stets Gefahr, ins Globale abzudriften. Dort ist das Thema >>
schnell durch. Denn weltweit gesehen nimmt die Zahl der hungernden Menschen ab – und am Schicksal der nach wie vor Hungernden sind nicht selten korrupte Machthaber oder Kriege schuld.
Spannend jedoch wird der Diskurs, wenn man bei SDG zwei auch das Kleingedruckte liest. „Alle Menschen sollen Zugang haben zu sicheren, nährstoffreichen und ausreichenden Nahrungsmitteln. Alle Formen der Fehlernährung sollen verhindert werden. Ziel ist eine produktive regionale Landwirtschaft und nachhaltige Nahrungsmittelproduktion.“ Von letzterem sind wir global gesehen (meilen)weiter entfernt als je zuvor. Die Fehlernährung wieder schreitet munter voran. Und zwar als Überernährung, mit ökologisch gravierenden Folgen.
Stefanie Lemke, Professorin an der Boku Wien, kennt die Realität. Fettleibigkeit, gepaart mit einseitiger Fehlernährung, hat dem Hunger längst den Rang abgelaufen, zumindest was die Zahl der Betroffenen anbelangt. Weltweit gelten fast 40 Prozent der Menschen als übergewichtig oder adipös, unter den Kindern sind es mittlerweile 20 Prozent. Diese Zahlen gelten übrigens auch für Afrika oder Asien, wo die einseitige Überernährung sehr oft Hand in Hand geht mit dem Konsum objektiv minderwertiger Nahrungsmittel.
Hat die Menschheit es verlernt, sich sinnvoll zu ernähren? Konnte sie es jemals? Oder waren unser Essen und Trinken nicht vielmehr über Jahrtausende hinweg ein Pendeln zwischen Not und (weit seltener) Überfluss?
Fest steht, dass es (im Europa von heute) zu einer fast völligen Entkoppelung von Produzent und Konsument gekommen ist. Nahrungsmittel werden industriell erzeugt und verarbeitet, überregionale Handelsstrukturen und das Fortschreiten von Convenienceprodukten tun ein Übriges. Es wird mitunter nicht mal mehr nachgefragt, woher die Spitalsküche das Fleisch und der Wirt das Hühnerei hat. Hand in Hand damit geht die zunehmende Unfähigkeit zu kochen, und zwar regelmäßig und mit Plan. Denn nur ein halbwegs durchdachter Speisezettel führt zu möglichst restlosem Verwerten aller Zutaten. Salzburger Bäuerinnen haben ein Kochbuch geschrieben mit dem vielsagenden Titel „Rest(e)los genießen“. Wer nicht selbst kocht, wird damit nichts anfangen können.
Nicht ohne Grund machen Caritas und andere Sozialorganisationen sehr häufig die Beobachtung, dass in den Supermärkten gerade die Einkaufswagen der materiell Schwächeren mit wenig wertvollen, aber verdammt teuren Produkten gefüllt sind, darunter viele Fertiggerichte. Und das Personal in Kindergärten und Volksschulen weiß, wer oft die unvernünftigsten, aber teuersten Jausen mithat – rasch in der Früh gekauft an der Tankstelle: die Kinder der Geringverdiener.
Nicht selbst zu kochen beziehungsweise nicht mit Plan zu kochen ist also teuer. Und es ist meist ungesund. Boku-Professorin Lemke fordert daher stets „kleine Systeme“. Sie meint damit kleinbäuerliche Strukturen in der Landwirtschaft, aber auch kleinstrukturierte Versorgungsysteme. „Beide sind krisensicher und schaffen meist hohe Qualität“, so Lemke.
Die seit März 2020 entstandenen Covid-Suppenküchen sind dafür ein gutes Beispiel. „Diese Notinitiativen sollten nun echt etabliert werden“, denn sie helfen notleidenden Menschen in doppelter Hinsicht. Das dort ausgegebene Essen ist verhältnismäßig preisgünstig (größere Mengen kochen sich stets billiger als ein Essen für ein oder zwei Personen) und durchaus gesund und ausgewogen. Es ist kein Zufall: Mehrere asiatische Länder haben mit öffentlichen Sozialküchen beste Erfahrungen gemacht und fördern diese, weil sie darin auch eine Investition in die Volksgesundheit sehen.