Hannas Weg

 

Seit über zehn Jahren schreibt Hanna S. als Autorin der Apropos-Schreibwerkstatt über Themen und Menschen, die sie interessieren. Dabei könnte die 56-Jährige selbst Heldin eines Romans sein, so berührend ist ihre Lebensgeschichte. 

 

von Franziska Lipp

 

Hinfallen. Aufstehen. Krönchen richten. Weitergehen.“ Ganz einfach könnte das Leben sein, wenn dieses Hinfallen jeweils nur ein kleines Stolpern wäre. Vielleicht schlägt man sich das Knie auf oder blutet ein wenig an der Hand. Alles gut, will man sagen: Wir blasen einmal drauf und schon geht’s weiter! 

Was aber, wenn dieses Hinfallen ein echtes, schmerzhaftes Stürzen ist? Ein Stürzen, so ungnädig und brutal, dass ein Aufstehen und Krönchenrichten schier undenkbar erscheint?

Wenn Hanna von ihrem Leben erzählt, dann ist es eine Geschichte des Stürzens und Fallens. Sie beginnt mit dem Tag ihrer Geburt und mit dem Umstand, dass sie als Tochter einer Frau zur Welt kommt, die sie nicht in ihrem Leben haben möchte. Also lässt diese Frau das kleine, hilflose Geschöpf im Krankenhaus zurück, ohne auch nur einmal umzublicken. Es sind andere, die sich um das Neugeborene kümmern. Allerdings nicht aus Liebe, sondern weil niemand sonst zur Stelle ist. Darauf folgt eine Kindheit, die geprägt ist von Unfreiheit, von Zwängen, Ablehnung und von Vergehen, die man keinem Menschen wünscht und über die man auch nicht schreibt. Weil sie so unvorstellbar grausam sind, dass allein der Gedanke daran an das Gute im Menschen zweifeln lässt. 

Hanna stürzt in einem fort, oder besser: Das Leben bringt sie ständig zu Fall. Sie wird niedergerungen von Menschen und von Umständen, gegen die sich ein Kind nicht zur Wehr setzen kann. Denen es hilflos ausgeliefert ist. Daher könnte diese Geschichte auch eine Geschichte des Scheiterns sein. Doch das ist sie nicht. Ganz im Gegenteil! Es ist die Geschichte einer Frau, die so viel Kampfgeist oder – wie sie es nennt – Dickköpfigkeit besitzt, dass sie sich von jedem Sturz, und war dieser noch so ungnädig, immer wieder aufrappelt. Wie oft sie sich das Krönchen wieder zurechtgerückt hat, hat sie nicht gezählt. Aber sie hat es ein ums andere Mal getan. Und das erscheint angesichts der Umstände geradezu unfassbar.

Den Glauben an das Gute haben Hanna all diese Stürze nicht nehmen können. Nicht, als sie in ihren Teenagerjahren als Punk von zuhause ausriss und unter der Lehener Brücke schlief. Nicht, als sie viel zu früh Mutter wurde und unter Einsamkeit und Überforderung litt. Nicht, als sie in der Linzer Gasse weinend zusammenbrach und man ihr ein Burnout diagnostizierte. Nicht, als aus dem Burnout eine Depression wurde, die drei Aufenthalte in einer psychotherapeutischen Tagesklinik und zehn Jahre Traumatherapie mit sich brachte. Nicht, als die psychische Erkrankung zu einer stetigen Reduktion ihres Arbeitspensums und damit ihres Einkommens führte und sie ins gesellschaftliche Abseits geriet. Nicht, als sie nach einem Autounfall wochenlang im Koma lag. 

Heute sitzt Hanna, die einst beruflich als Pflegehelferin arbeitete, aufrecht am Tisch und lächelt. Sie trägt eine markante Brille, eine bunte Kette, einen gemusterten Schal. „Auch wenn es kein leichter Weg war, fühle ich mich reich beschenkt“, sagt sie mit Nachdruck. „Ich habe nur das existenzielle Minimum zum Leben, aber auch eine Wohnung, eine Arbeit und Leute, mit denen ich gern zusammen bin. Ich sehe es als meinen Auftrag an, beständig an mir zu arbeiten, und ich glaube fest an die positive Energie des Universums.“

Hanna ist eine willensstarke und mutige Frau. Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Tabu, darüber zu reden fällt vielen Betroffenen schwer. Hanna tut es in dem Wissen, dass andere – vielleicht ihr weniger gut gesinnte Menschen – das Gesagte gegen sie verwenden könnten. Doch sie zuckt nur mit den Achseln: „Ich habe in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen mit psychischen Erkrankungen und was soll ich sagen: Diese Menschen akzeptieren einen so, wie man ist. Man muss sich nichts beweisen, und das tut gut.“

Wenn Hanna auf ihr bisheriges Leben zurückblickt, tut sie das abgeklärt. „Ich bin wohl austherapiert“, sagt sie mit einem Augenzwinkern: „Natürlich habe ich mich millionenfach gefragt, warum mir all das passieren musste. Warum ich nie eine Familie hatte und den Satz ‚Ich hab dich lieb‘ nur aus Filmen kenne. Und ich war jahrelang wütend auf mich, weil ich nicht funktionierte, wie ich mir das vorstellte oder die Gesellschaft es vorgibt. Aber ich fühle heute keinen Gram auf niemanden. Manche Situationen tun noch weh, etwa wenn ich eine glückliche Familie sehe. Aber ich muss sagen: Neben all dem Schlimmen ist mir auch viel Gutes widerfahren. Und ich bin dankbar für die vielen tollen Menschen, denen ich begegnet bin.“

Hanna hat Methoden und Möglichkeiten gefunden, damit ihre Seele Heilung erfahren kann: Sie schreibt an ihren Texten. Sie kocht gern für andere Menschen. Sie macht es sich an jedem Tag schön. Sie mag es, draußen in der Natur zu sein. Und sie hat ihre Tagträume, denen sie nachgeht. Diese handeln von einer kleinen Blockhütte im Wald, in der sie mit ihren Tieren lebt und sich selbst versorgt. „Ein Lebenstraum, den ich – wie ich ahne – mir wohl nicht mehr verwirklichen werde können. Aber ich kann mich jeden Tag eine Stunde in diese Welt hineinträumen“, sagt sie freimütig. Jeder Sturz hat in Hannas Leben Spuren hinterlassen, die Narben sind geblieben. An Wunder glaubt sie immer noch: „Es gibt Menschen, die die positive Kraft des Universums antreiben, und davon erhält man manchmal auch ein wenig zurück. Ich bin davon überzeugt, dass man bekommt, wofür man kämpft, wenn man nur alles gibt.“ 

Jeden Abend nimmt sich Hanna ein paar Minuten Zeit, um sich für all das Schöne des Tages zu bedanken. Manchmal ist auch eine kleine Bitte dabei. Und manchmal passieren ja auch tatsächlich Wunder. Hanna glaubt an sie. Und damit ist sie ein unerschütterliches Vorbild. 

Allzu oft suchen wir unsere „role models“ auf den roten Teppichen dieser Welt und im Rampenlicht. Wir denken, dass es die Schönen und Reichen und wahrhaft gekrönten Häupter sind, die uns Vorbild sein sollen. Das ist mitnichten der Fall. Hanna hat so oft ihr Krönchen zurechtgerückt, dass dieses heller strahlt als jedes kostbare Diadem. Ihre Geschichte ist eine Aufforderung und Einladung, an die Ränder des Scheinwerferlichts zu blicken und sich nicht blenden zu lassen. Denn es sind genau jene Menschen wie Hanna, die vormachen, wie Leben geht. Die für ihr Leben kämpfen und unter größten Anstrengungen und schwersten Bedingungen ihren Weg verfolgen: „Hinfallen. Aufstehen. Krönchen richten. Weitergehen.“ Alles andere ist keine Option.