Krass, was Literatur kann
Mit ihrem Roman „Die Wut, die bleibt“ hat die Salzburger Schriftstellerin Mareike Fallwickl die Debatte rund um Care-Arbeit und Geschlechter-Klischees literarisch befeuert. Auch ihr neues Buch „Und alle so still“ verspricht für Zündstoff in der Pflegediskussion zu sorgen. Wie sie als weibliche Autorin den Literaturbetrieb erlebt und auf welche Weise sie die Solidarität, über die sie schreibt, auch selber in ihrem Tun umsetzt, schildert Mareike Fallwickl im Apropos-Titelinterview.
Titelinterview mit Autorin Mareike Fallwickl
von Monika Pink
Was verbinden Sie mit dem Begriff „aufrecht“?
Mareike Fallwickl: Für mich spielen da die Ideen von Solidarität und Gestalten hinein, das Füreinander-Einstehen und für die anderen mitzukämpfen. Uns wird immer suggeriert, dass wir machtlos sind. Und wir glauben es, wir gehen nicht einmal mehr wählen, weil wir das Gefühl haben, wir können eh nichts ändern – aber es gibt kein System und keine Gesellschaft unabhängig von uns. Wir gestalten es jeden Tag mit und tragen alle Entscheidungen. Insofern haben wir mehr Gestaltungsmöglichkeit, als wir denken und als wir denken sollen. Daraus resultierend aber auch mehr Verantwortung tatsächlich aktiv zu werden.
Wie können Sie als Schriftstellerin diese Solidarität und Verantwortung zeigen?
Mareike Fallwickl: Indem ich Bücher von Frauen, von Schwarzen Menschen, von nicht-binären und trans* Menschen empfehle. Natürlich geht es mir in erster Linie darum, dass möglichst viele Leute diese Bücher kaufen und lesen. Aber auch darum, zu inspirieren. Die Frauen sehen: Moment mal, da sitzt eine Autorin, die sagt: „Das sind nicht meine Konkurrentinnen, sondern meine Schwestern, und die gehören zu mir auf diese Bühne.“ Und wenn nur zwei, drei Frauen von den mindestens hundert im Saal mit dem Gedanken rausgehen: Vielleicht kann ich auch in meinem beruflichen oder privaten Umfeld andere Frauen unterstützen und ihnen die Hand reichen, statt sie in den Abgrund zu schubsen, dann ist schon was erreicht.
Ist Frauensolidarität für Sie auch literarisch ein Thema?
Mareike Fallwickl: So viele Leute haben zu mir gesagt: „Du redest immer über die Solidarität unter Frauen, und die existiert einfach nicht, sie wird uns aberzogen, Frauen können nicht zusammenhalten.“ Da hab ich mir gedacht: Gut, dann schreibe ich sie euch. In meinem neuen Roman gibt es diese Schwesternschaft, ich erzähle, wie sie aussieht, wie sie sich anfühlt. Denn wenn wir davon lesen und darüber reden können, können wir sie vielleicht auch real machen.
Also passt „aufrecht“ auch zu Ihrem neuen Buch?
Mareike Fallwickl: Es geht darin um Solidarität und Verweigerung. Aber auch um das körperliche Gegenbild zu „aufrecht“, nämlich die völlige Niedergedrücktheit. Das Szenario ist, dass die Ressource menschliche – in erster Linie weibliche – Kraft plötzlich zu Ende ist. Und alle sehenden Auges darauf zugesteuert sind und gewusst haben, dass man nicht immer Raubbau an den Frauen betreiben und dabei denken kann, dass sie aufrecht bleiben. Und so liegen sie plötzlich. Sie liegen überall, es ist eine kollektive Verweigerung, ein völliger Stillstand.
Wie kommen Sie zu den Themen, über die Sie schreiben?
Mareike Fallwickl: „Die Wut, die bleibt“ ist mir passiert, ich wollte eigentlich etwas anderes schreiben. Ein nettes Buch, das auch schon fertig und in der Überarbeitung war. Und dann waren wir im Februar 2021 im Lockdown, und es war unklar: Bleibt das jetzt so? Hört das jemals wieder auf? Fast jeden Tag haben mir Freundinnen, die Mütter sind, geschrieben: Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich spring jetzt vom Balkon. Dieser Satz hat mich plötzlich elektrisiert und ich hab mich gefragt: Moment, was ist, wenn das eine wirklich macht? Was für eine Geschichte kann dann entstehen? Und da hab ich im größten Homeschooling-Halli-galli meinen Laptop zu mir hergezogen und diese vielzitierte erste Seite geschrieben.
Aber es blieb nicht bei der einen Seite …
Mareike Fallwickl: Ja, denn dann hab ich mir gedacht: Ach verdammt, das ist viel besser als das ganze nette Buch, das du da geschrieben hast! Ich bin oft gefragt worden: „Bist du eines Tages aufgewacht und wolltest ein feministisches, empowerndes Buch schreiben?“ So war das gar nicht, mein Zugang war literarisch. Ich wollte wissen: Wie funktioniert das, welche Figuren braucht es, wie wird das spannend? Dass es als feministisch und empowernd gilt, ist natürlich gut und schön, aber diese Zuschreibung ist etwas, das von außen und später kommt.
Sie haben die Geschichte bewusst nicht aus der Sicht der Mutter erzählt.
Mareike Fallwickl: Ja, weil dann hätten alle die Augen verdreht und gesagt: „Die hat die Kinder gekriegt, jetzt muss sie sich halt um sie kümmern.“ Aber dass nach ihrem Tod ihre beste Freundin in dieses Gefüge reinkommt und alle diese Dinge tun muss, macht einen riesigen Unterschied in unserer Wahrnehmung. Plötzlich werden all diese Aufgaben sichtbar: die Berge an Dreckwäsche, die vollgespuckten Waschbecken – und es sind nicht einmal ihre eigenen Kinder! Weil wir Sorgearbeit so eng mit Weiblichkeit verknüpfen, ist es absolut glaubwürdig, dass sie da reinrutscht und sich dazu verpflichtet fühlt.
Sie meinen, man kann als Frau gar nicht anders, als sich zuständig zu fühlen?
Mareike Fallwickl: Es kommt uns total logisch vor: Der Mann wendet sich zuerst an die eigene Mutter, er holt die Oma, aber die ist selber pflegebedürftig, weil ich das so will. Und dann kommt die kinderlose Freundin. Man merkt, dass sie sich noch nie um Kinder gekümmert, sondern nur beim Um-Kinder-Kümmern zugeschaut hat. Trotzdem haben wir gleich das Gefühl: Die wird das schon irgendwie hinkriegen. Während: Würde er sich einen Mann ins Haus holen, einen Onkel oder einen besten Freund, hätten wir ein komisches Unbehagen. Interessant, wie sehr wir diese Aufgaben, die ja nur simple Tätigkeiten sind, mit Geschlecht verbinden.
Was hat dieser Roman bewirkt?
Mareike Fallwickl: Am Anfang war es ein bisschen schräg, weil es keine aktive Entscheidung von mir war, auf politischen Bühnen zu stehen oder meinem eigenen Gesicht auf Social Media in Kacheln mit feministischen Zitaten zu begegnen. Das war unerwartet. Ich sitze dann neben Menschen wie der promovierten Soziologin Franziska Schutzbach oder der Landesrätin von Tirol, und die Moderatorin sagt zu mir: „Was soll die Politik jetzt tun, Frau Fallwickl?“
Und – welche Antwort geben Sie auf diese Frage?
Mareike Fallwickl: Ich habe mir die Zahlen, Fakten und Statistiken angeeignet und kann das alles beantworten. Aber das war nichts, wo ich mir gedacht habe, da geht die Reise hin – ich wollte einfach nur Romane schreiben! Andererseits: Krass, was Literatur kann, und dass eine komplett erfundene Geschichte mich in solche Settings bringt.
Apropos Setting: Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Roman bei den Salzburger Festspielen als Theaterstück aufgeführt wird?
Mareike Fallwickl: Ich hab gut gefunden, dass Themen wie Care-Arbeit und Gewalt an Frauen viel Aufmerksamkeit bekommen haben – und zwar wirklich im großen Stil, da konnte keine Zeitung und kein ORF und kein Radio daran vorbei. Da geht es mir nicht um meine Person, sondern darum, dass ich mir gedacht hab: Wie schön, dass das eine große Bühne kriegt, im wörtlichen und sprichwörtlichen Sinne. Und der gewaltige Erfolg macht halt auch einen Unterschied.
Inwiefern?
Mareike Fallwickl: Meine Hoffnung ist, dass auch andere Theater sehen: Man kann ja Stücke von Frauen mit feministischer Botschaft auf die Bühne bringen und das Haus ist ausverkauft. Das sind ja alles kapitalistisch motivierte Unternehmen, aber ich wünsche mir, dass dadurch die Theater wie auch der Literaturbetrieb merken, dass diese Themen funktionieren.
Wie erleben Sie als Autorin den Literaturbetrieb?
Mareike Fallwickl: Es ist nach wie vor ein sehr männerdominierter, misogyner Bereich. Das Schwierige ist: Sobald ich sage, dass Autoren mehr Aufmerksamkeit, mehr Stipendien, mehr Sichtbarkeit, mehr Rezensionen, mehr Geld erhalten, dann sagen Menschen gern: „Also mir ist das Geschlecht ganz egal, ich geh in die Buchhandlung und nehm das, was mich interessiert.“ Erstens stimmt das nicht, weil der Gender Bias* halt komplett unbewusst ist. Außerdem ist diese Buchhandlung kein neutrales Feld.
Was meinen Sie mit „neutrales Feld“?
Mareike Fallwickl: Was siehst du wo ausgelegt? Wer steht auf welchem Bestseller-Listenplatz? Welcher Verlag steckt in welchen Autor wie viel Kohle rein? Von wem hab ich in der Zeitung gelesen, auf Social Media – all diese Dinge nimmst du unbewusst wahr. Und schon bevor du in die Buchhandlung gehst, sind so viele Dinge passiert, von denen du keine Ahnung hast. Sie haben dazu geführt, dass viele Bücher von marginalisierten Menschen überhaupt nicht da sind. Sie werden nicht gedruckt. Diese Auswahlprozesse kriegst du als lesender Mensch gar nicht mit.
Welche Reaktionen erfahren Sie, wenn Sie Geschlechterungerechtigkeiten ansprechen oder in Ihren Büchern darüber schreiben?
Mareike Fallwickl: Es geht oft um die Männer-Egos und ich werde gefragt: Wie fühlen sich die Männer mit diesem Buch? Wie geht es ihnen damit, dass sie nicht im Fokus stehen? Dass sie nur passive Randfiguren sind? Niemand fragt: Wie geht es den Frauen seit Jahrhunderten damit, dass sie nicht im Fokus stehen? Es löst oft Unbehagen bei den Männern aus, so mit der Nase darauf gestoßen zu werden. Aber wir Frauen sind nicht dafür zuständig, dass es den Männern besser geht, schon gar nicht, wenn wir die Ungerechtigkeiten benennen.
Wollen Sie mit Ihren Büchern dazu beitragen, etwas gesellschaftlich zu verändern?
Mareike Fallwickl: In erster Linie möchte ich gute Geschichten erzählen, mit einem Spannungsbogen, Bücher, die man nicht sofort vergessen kann. Ich finde es unheimlich interessant, nach rechts und links zu schauen, was uns bewegt und als Gesellschaft beschäftigt. Die Themen sind überreif, es ist wie ein Garten, wo man pflücken kann. Das finde ich so super an Literatur: Ich kann erfinden, was ich will, es sind ja nur Buchstaben. Ich kann Szenarien und Situationen ausprobieren und durchdeklinieren, die so in der Realität nicht oder noch nicht stattfinden.
Bei Ihrem aktuellen Buch „pflücken“ Sie das Thema Pflege …
Mareike Fallwickl: Die Ausgangsidee ist: Wer hat wie viel Macht? Wir denken ständig: Wir müssen und müssen und müssen und sind total gestresst und am Limit – alle von uns. Und das Buch stellt die Frage: Was ist, wenn wir das nicht müssen? Was ist dann? Ich hatte nicht geplant, dass es in der Pflege spielen soll. Ich wollte eine „typisch weibliche“ Frauenfigur haben, wo wir sagen würden, die opfert sich auf, die geht über sämtliche Grenzen und die kümmert sich immer nur um andere und nie um sich selbst. Ich wollte schauen, was alles passieren muss, damit so eine Frau nicht mehr aufsteht. Und dann hab ich im Internet Frauen gesucht, die im Altersheim oder im Krankenhaus arbeiten und mir Fragen beantworten.
Wie war da die Resonanz?
Mareike Fallwickl: Es haben sich viele Frauen gemeldet, die trotz ihrer Überlastung und Überarbeitung meine Fragen beantwortet haben. Als ich das gelesen habe, wurde mir klar: Das muss in diesen Roman, ich muss die Pflege thematisieren, da waren so krasse Sachen dabei. Alles, was in den Krankenhaus-Kapiteln passiert, ist nicht erfunden, das sind echte Ereignisse.
Wie, glauben Sie, wird „Und alle so still“ aufgenommen werden?
Mareike Fallwickl: Schauen wir die Pflege an: Da werfen wir immer mit Zahlen um uns, wie viele Pflegekräfte bis zum Jahr 2030 fehlen werden, wir reden von Pflegenotstand etc. Das ist ja nichts, was uns nicht bekannt ist. Es gibt kein Wissensdefizit, es gibt ein Handlungsdefizit. Und deswegen ist das, was ich im Buch schreibe, gar nicht so unrealistisch, sondern nur ein paar Schritte vorausgedacht. Am meisten gespannt bin ich darauf, wer diesen Roman als utopisch und wer ihn als dystopisch bezeichnen wird.
*Anm. d. Red: Voreingenommenheit in Bezug auf das Geschlecht