Mischkulanz

 

von Mattias Ainz-Feldner

Es ist so lang her, dass unmöglich gesagt werden kann, ob sich die Geschichte wirklich so zutrug, wie sie hier erzählt wird. Im Wesentlichen muss es aber ziemlich genau so gewesen sein. Als Schlüsselkind ist es ungünstig, den Schlüssel zuhause vergessen zu haben: Da ist niemand, der aufmachen könnte. Die Eingangstür des Mehrparteienhauses konnte noch überwunden werden, vor der Wohnungstür war Endstation. Je nachdem, mit wem man spricht, unterscheidet sich die Dauer des Martyriums beträchtlich voneinander – es müssen Stunden gewesen sein (andere behaupten, es waren 45 Minuten). Jedenfalls hatte man sich auf der Stiege hockend seinem Schicksal ergeben und rechnete damit, die Nacht hier verbringen zu müssen, da öffnete sich die Tür der Nachbarswohnung. Links lagen die 3-Zimmer-Wohnungen, rechts die größeren – gerüchteweise waren sie riesig, aber ernsthaft in Augenschein hatte man noch keine genommen und geredet wurde ja viel auf den Spielplätzen dieser Zeit. Die Nachbarin erkannte die bittere Not und sagte (sinngemäß): „Du Armer sitzt hier schon seit Stunden. Komm herein und stärke dich, bis du aus deiner misslichen Lage befreit wirst.“ Man tat, wie einem geheißen, und betrat die Wohnung. Die Eingangshalle erinnerte an den Schulturnsaal und man staunte ob der Anzahl der Zimmer, die am Horizont zu erahnen waren – doch bevor man sie zählen konnte, wurde man in den Speisesaal (den sie scherzhaft Esszimmer nannte) gebeten. Die Nachbarin servierte Kletzenbrot (es dürfte Winter gewesen sein) und wollte wissen, ob man Apfelmus oder Heidelbeerjoghurt dazuhaben wolle. Was sie nicht wusste: Um Kletzenbrot hatte man zeitlebens einen Riesenbogen gemacht. Aber jetzt gab es kein Entrinnen. „Wir mischen gern Apfelmus mit Heidelbeerjoghurt, magst du auch?“ Man wollte nicht, traute sich aber kein Nein zu, sagte also: Ja, bitte, und saß im Schlamassel, schlüssel- und hilflos musste man allen Mut zusammennehmen und essen, was vor einem lag. Das bis dahin nur namentlich bekannte und stets gefürchtete Dörrobst entfaltete im Mund seine ganze schauderhafte Kraft und ließ sich nur mit einem Löffel dieser sonderbaren Mischkulanz – man kann es nicht anders sagen – hinunterwürgen. Nur ein Wunder konnte noch helfen. Und wirklich, noch bevor man ein zweites Mal vom Kletzenbrot abbeißen musste, läutete es an der Tür (es klang wie eine Kirchenglocke). „Ist mein Sohn bei Ihnen?“ Wie von der Tarantel gestochen sprang man auf, ließ das Kletzenbrot fallen und lief in die Arme der Mutter. Nach diversen Dankesbekundungen und kleineren Lügen („Er isst nicht gern und spricht kaum“) ging es endlich in die eigene Wohnung. „Ich hab was für dich“, sagte die Mutter und überreichte etwas Längliches, das in Alufolie eingewickelt war. So nahm dieser Tag doch noch ein gutes Ende: Das Piratenhörspiel entführte in kletzenbrotfreie Welten und der Bosna war noch warm.