Vom Leben (weich) gezeichnet

 

Interview mit Apropos-Verkäuferin Ionela Tamas

von Magdalena Maier

Blonde Strähnen durchziehen ihr dunkles Haar. Es sieht weich aus, frisch gewaschen. Als sie mir die Hand gibt, ist auch diese weich. Ich habe einen gezeichneten Menschen erwartet, einen, der den Unvorstellbarkeiten des Lebens mit Härte begegnet, weil alles andere zerdrückt werden würde. Stattdessen sitzt mir eine hübsche Frau gegenüber, die mich freundlich begrüßt. Sie trägt Ohrringe mit einem kleinen glitzernden Stein und strahlt, wenn sie lacht. Ionela heißt sie, und als sie zu erzählen beginnt, merke ich schnell, dass ich mich abermals getäuscht habe: Natürlich ist sie gezeichnet vom Leben. Doch entgegen meiner Vorstellung sind die Striche nicht harsch und unbarmherzig. Nein, die Frau mir gegenüber wurde weichgezeichnet.

Sie hat ein paar deutsche Wörter im Repertoire, doch den Großteil ihrer Geschichte gießt sie in die Melodie ihrer eigenen Sprache. Ionela ist Rumänin, 26 Jahre alt und kommt aus einem Dorf in der Nähe von Pitești. Als ich die Stadt später google, erfahre ich, dass sie im Süden des Landes liegt und 140.000 Einwohner hat, Tendenz sinkend. Für Ionela ist das natürlich wenig relevant. Für sie zählt nur die blaue Linie, die sich auf Google Maps quer durch Europa zieht und die Route zu ihrem Elternhaus beschreibt. 1.255 Kilometer sind es, oder 13 Stunden und 20 Minuten, die zwischen der jungen Frau und dem Ort liegen, an dem ihre Kinder auf sie warten. 

Drei Kinder hat sie, einen Achtjährigen, der einmal Polizist werden möchte, und seine kleinen Brüder, Zwillinge, die mit ihren fünf Jahren noch in den Kindergarten gehen. Der Gedanke an die drei Jungs treibt meinem Gegenüber die Tränen in die Augen. Wann sie das nächste Mal nach Hause fahre, frage ich. Sie schaut auf ihre weichen Finger, die mit einer Serviette spielen, und die blonden Strähnen durchziehen ihr Haar wie die unerträglich lange blaue Linie zwischen Salzburg und ihrer Familie. Wenn sie könnte, sagt sie, würde sie jetzt sofort aufbrechen. Seit vier Jahren fährt sie regelmäßig nach Österreich. Ich überschlage im Kopf – damals waren die Zwillinge gerade einmal ein Jahr alt und mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Warum genau sie damals den Entschluss gefasst hat, sich das erste Mal aufzumachen, will ich sie nicht fragen und sie will es auch nicht in Worte fassen. Aber furchtbar war es und ihr breites Lächeln, das sie mir immer wieder schenkt,  stockt ein wenig über der Erinnerung an den kalten Winter 2020. Nach drei Wochen hat sie aufgegeben und ist nach Pitești zurückgereist, erschlagen von Nächten im Freien, weil die Notschlafstellen wegen der Corona-Pandemie geschlossen hatten. Ionela und ich sind fast gleich alt und ich erinnere mich zurück an diese Zeit, in der meine größte Sorge darin bestand, mit meinen Freundinnen nur übers Internet kommunizieren zu können. In denselben Wochen musste sie einen Vierjährigen und zwei Einjährige in Rumänien zurücklassen, um Geld für ihre Familie zu verdienen. 

Bei ihrer zweiten Reise, im Sommer danach, hat sie ihren Apropos-Ausweis bekommen. Ionelas Lächeln gewinnt seine Kraft zurück, als sie davon erzählt. Die Menschen von Apropos sind hier in Österreich wie eine Familie für sie geworden. Sie ist ihnen dankbar, dass sie ihr ermöglichen, für ihre Kinder zu sorgen. Ich will wissen, wie ihr Alltag aussieht. Ich versuche, mir ihr Leben vorzustellen, ein Leben, das das meine hätte sein können, wären meine Eltern keine Österreicher, sondern Rumänen gewesen. Sie hält sich kurz, berichtet von den Nächten in der Notschlafstelle, wo sie in den Wochen und Monaten in Salzburg schläft, und von der Busreise nach Hallein. Zwischen 9 und 17 Uhr steht sie dann beim Billa Plus, bei Sonne, bei Regen, bei Schnee. Auch als sie vom netten Filialleiter erzählt, ziert ihr herzliches Lächeln ihr Gesicht. Der erlaubt ihr, sich im Winter in den Vorraum zu stellen, und sogar Kaffee bekommt sie, gratis, dafür ist sie unendlich dankbar. Abends geht es dann zurück in die Notschlafstelle. Was sie dort für ein Feierabendprogramm habe, frage ich sie und sie schaut mich belustigt an, bevor sie mir die Antwort auf Deutsch gibt: „Essen, duschen, schlafen.“ Mit ihren Kindern telefoniert sie auch noch, jeden Abend und tagsüber, so oft es geht. 

Wir sprechen noch über ihr Elternhaus, in dem die drei Jungs gemeinsam mit Ionelas Mutter und Schwester wohnen. Außer ihr arbeitet niemand und ich frage nach, ob ich sie wirklich richtig verstanden habe. Ja, habe ich, sie versorgt mir ihrer Arbeit eine fünfköpfige Familie, die sehnsüchtig darauf wartet, dass sie nach drei Monaten zurückkehrt. Länger darf man trotz EU nicht in Österreich sein. Ihre Familie wartet in ihrem Haus mit zwei Zimmern und ohne fließendes Wasser, sie wartet auf Ionela, aber sie wartet auch auf wirtschaftlichen Aufschwung. Darauf, dass es in Rumänien bergauf geht, auch wenn das aktuell wie ein unerreichbarer Traum klingt. Ionela selbst wartet nur aufs Ende der drei Monate. Sonst erwartet sie nichts. Sie hat keine Pläne, keine Ziele. Alles, was sie will, ist, dass  es ihren Kindern gut geht, dass sie in die Schule gehen können und gut leben können. Irgendwann will sie Deutsch lernen und ihren drei Jungs einmal Österreich zeigen mit all seinen freundlichen Menschen. Das betont sie immer wieder: Wie nett die Leute hier sind. Obwohl ich mich wundere, freue ich mich darüber. Dass ihr bis heute niemand Böses wollte und dass sie Stammkunden hat, die sie umarmen, wenn sie sie sehen. Vielleicht hilft das dabei, dass sie trotz aller Hindernisse voller Lächeln und mit frisch gewaschenem Haar vor mir sitzt. 

Als wir uns verabschieden, eilt sie vondannen, doch ihren weichen Händedruck spüre ich noch lange. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, von harten Tagen und rauen Nächten. Es hat mich durchgeschüttelt und mir die Augen geöffnet. Doch vor allem hat es mich mit leiser Bewunderung angefüllt. Bewunderung für diese sanfte Frau, die ihr Leben für ihre Kinder lebt und dankbar für alles ist, was ihren unvorstellbaren Weg ein winziges Stück leichter macht.

Das Leben hat sie gezeichnet, natürlich hat es das. Aber irgendwie hat sie es geschafft, trotzdem weich zu bleiben. Mit Haut und Haaren, mit ihrer Stimme und ihrer Geschichte. Ich wünsche ihr von Herzen, dass es so bleibt.