Was mir unter die Haut geht, ist Ungerechtigkeit
Dem Publikum ganz nah sein, das möchte Adrian Goiginger (32) mit den Geschichten, die er auf der Leinwand erzählt. Dafür beschreitet er in der Zusammenarbeit außergewöhnliche Wege, wo er den Mitwirkenden viel abverlangt, um sie mit Haut und Haar in ihre Rollen eintauchen zu lassen. Was ihm selbst nahegeht, wie ihn seine Vaterschaft verändert hat und warum er leidenschaftlich gern mit Kindern dreht, erzählt der preisgekrönte Salzburger Filmemacher im Apropos-Interview.
Titelinterview mit Regisseur Adrian Goiginger
von Monika Pink
Herr Goiginger, wie passt der Begriff „hautnah“ zu dem, was Sie machen?
Adrian Goiginger: Genau das wünsche ich mir, dass meine Filme transportieren: eine hautnahe Erfahrung, ein hautnahes Erlebnis in der Welt, die ich erzähle. Mir ist sehr, sehr wichtig, dass die Menschen, die ich zeige, ganz authentisch sind und dass man hautnah mit ihnen mitfiebert.
Wie erreichen Sie das?
Adrian Goiginger: Durch ewig lange Vorbereitungen – das ist der einzige Schlüssel für mich und meine Arbeit. Ich bereite einen Film Monate und Jahre mit den Darstellenden vor. Das ist eine lange Zeit, in der wir recherchieren, die Rolle erarbeiten und extrem viel proben. Wir proben viel mehr als die Szenen im Drehbuch, wir proben in der Welt rundherum und ich lasse sie auch Tagebücher schreiben. Und deswegen glaube ich, dass am ersten Drehtag die Schauspielerinnen und Schauspieler schon fertige Figuren sind und gar nicht mehr überlegen: „Wer bin ich jetzt, wie würde meine Figur jetzt handeln?“, sondern sie spüren das schon.
Insofern ist der Arbeitsprozess ja auch ganz hautnah, oder?
Adrian Goiginger: Ja, und das ist mir auch wichtig, gerade bei solchen Geschichten, die ich erzähle. Ich glaube, dass der Funke von der Leinwand in den Kinosaal nur überspringen kann, wenn das, was vor der Kamera passiert, echt und authentisch und ehrlich ist. Das heraufzubeschwören und die Menschen dorthin zu bringen, sehe ich in meiner Verantwortung. Und da geht es nicht nur um die Darstellenden, sondern auch um die Personen hinter der Kamera, die Maske und so.
Ich möchte nicht, dass sie einfach nur hinkommen und das als Arbeit sehen. Ich versuche alle anzustacheln, dass es etwas Besonderes ist und man das Gefühl hat, da stecken Herz und Seele und Leidenschaft dahinter. Dann macht es ja auch mehr Spaß!
Wie gelingt es Ihnen, dass sich die Schauspielerinnen und Schauspieler so lange und intensiv darauf einlassen?
Adrian Goiginger: In der Planung bin ich ganz ehrlich, lege die Karten auf den Tisch und sage: „Wenn du die Rolle willst, musst du das oder das machen.“ Und die meisten lieben das, viele ergreifen den Beruf des Schauspielers, um wirklich voll in die Psyche eines anderen Menschen einzusteigen. Anderen Regisseuren sind vielleicht eher technische Dinge wichtig, aber ich bin halt so, dass ich den ganzen Weg mit ihnen gemeinsam gehe und wir die Tiefen und Höhen jeder Figur erforschen. Da entsteht ein Feuer, das ich bemerke. Dem Hauptdarsteller von „Der Fuchs“, Simon Morzé, hat das so getaugt, dass er sogar vier Monate als Knecht auf den Bergbauernhof gegangen ist.
Kann das nicht auch zu viel an Nähe sein? Gibt es da für Sie Grenzen?
Adrian Goiginger: Ich hole mir immer Feedback ein und frage die Darstellenden, wie weit sie gehen wollen. „Die beste aller Welten“ spielt ja im Drogenmilieu. Trotzdem war für mich total klar, dass nie jemand für den Film Drogen nimmt. So etwas will ich nicht, das ist für mich eine klare Grenze, das bringt auch Unsicherheit. Wenn ich merke, dass jemand bei einer Aktion unsicher ist, dann breche ich sie ab und suche einen anderen Weg. Aber bis jetzt, obwohl ich wirklich schwierige Stoffe habe, hat es noch nie ein Problem gegeben. Ich glaube, durch die lange Zeit, wo man sich vorher kennenlernt, hat man gegenseitiges Vertrauen.
Was geht Ihnen selbst unter die Haut?
Adrian Goiginger: Es gibt viel, was mich berührt. Ich habe gemerkt, dass ich mit meinen zwei kleinen Kindern extrem emotional geworden bin, so ganz manipulierbar und anfällig. Das nervt mich zwar total, aber es ist o.k., es ist grad eine schöne Phase. Aber ich heul zum Beispiel bei Filmen, wo ich früher nie geweint hätte. Was mir vom Thema her immer unter die Haut geht, ist Ungerechtigkeit. Das liegt, glaub ich, auch daran, dass ich in dieser ganz armen Familie im Drogenumfeld in Liefering aufgewachsen bin und zwei Seiten gesehen habe. Wenn ich Ungerechtigkeit sehe, dann merke ich, wie mich das ärgert, mir nahegeht und mich auch verwundbar macht.
Ist das auch ein Ansporn für Ihre Filme?
Adrian Goiginger: Bei „Die beste aller Welten“ auf jeden Fall! Mich hat das genervt, wie immer pauschal auf alle Drogensüchtigen – Entschuldigung – „runterg’schissen“ wird und wie die am liebsten ignoriert und weggeräumt werden. Mir war es neben anderen Dingen so wichtig zu zeigen: Hey, das sind auch Menschen, die lieben und nett sein können! Den Drogensüchtigen eine Stimme zu geben und sie zu vermenschlichen, das war mir ein extrem großes Anliegen.
Gerade in diesem Film haben Sie Ihre höchst persönliche Geschichte erzählt. Haben Sie nicht Angst, dass Ihnen da das Publikum zu nahe kommt?
Adrian Goiginger: Genau das will ich ja. Deswegen habe ich auch ganz bewusst die Namen der Personen nicht geändert. Ich hätte ja statt Helga Gitti und statt Adrian Daniel nehmen können. Das wollte ich nicht, ich wollte das von mir preisgeben. Und ich mache auch all die Publikumsgespräche in Österreich und international, weil ich mit den Menschen in Kontakt treten will, das taugt mir total. Ich mache die Filme nicht für Festivals oder Jurys, sondern für die Leute. Für mich sind es die schönsten Erlebnisse, wenn ich nach dem Film merke, dass er Menschen berührt und ich mit ihnen ins Gespräch komme.
Auch Ihr Film „Der Fuchs“ handelt von einem Familienmitglied, von Ihrem Urgroßvater. Was hat Sie daran so berührt, dass Sie dessen Geschichte verfilmt haben?
Adrian Goiginger: Beim „Fuchs“ war es diese Generation der 1920er, die es so schwer gehabt hat, wo die Kinder einfach weggegeben worden sind. Mich hat es so genervt, dass sich niemand mit dieser Vergangenheit beschäftigt, obwohl das so wichtig wäre zu verstehen – geschichtlich, psychologisch: Was macht das mit einer Generation, die nicht weiß, wie sie ihre Kinder ernähren soll? Sie werden pauschal als Nazis verurteilt, aber es wird nie geschaut: Wie sind die aufgewachsen, wie haben die gelebt, wie ist es denen gegangen, wie waren die Familienverhältnisse, ihre Wünsche und Träume? Mir ist es wichtig, mich damit tief zu beschäftigen. Weil dann kommt man drauf, dass wir Menschen nicht so unterschiedlich sind und dass jeder einfach nur glücklich sein will.
Die Hauptfiguren in Ihren Filmen sind oft Außenseiter:innen, und trotzdem kann man zu ihnen Nähe aufbauen und sich mit ihnen identifizieren – wie geht das?
Adrian Goiginger: Ich glaube, es ist nicht immer der gesellschaftliche Status, der uns dazu bringt, sich mit jemandem zu identifizieren, sondern es ist die Emotion. Beim Film „Die beste aller Welten“ haben sich sehr viele Eltern mit der Mutter identifiziert, nicht wegen der Drogensucht, sondern weil sie sich so aufopfert für das Kind. Und beim „Fuchs“ geht es ja um die Bewältigung eines Traumas. Die Hauptperson wird als Kind weggegeben, kämpft ihr restliches Leben damit, dieses Trauma zu bewältigen und ihren Eltern zu vergeben. Und klar, jetzt lebt niemand mehr, der die 1920er Jahre erlebt hat, aber ähnliche Sachen kennt man. Viele haben arge Schmerzen aus dem Elternhaus mitgenommen, und die können sich dann gut hineinversetzen.
Wie schaffen Sie es, über so lange Zeit an einem Projekt dranzubleiben?
Adrian Goiginger: Es ist schwierig, aber man wird mit der Zeit besser. Beim ersten Film habe ich echt damit gekämpft, weil ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin und immer alles gleich erledigen und fertig haben will. Nachdem „Die beste aller Welten“ fertig war, habe ich gemerkt, dass das Kinofilm-Machen ein Marathon ist und kein Sprint. Du brauchst echt Ausdauer, und da reden wir von Jahren und nicht von Monaten, aber man wird es gewöhnt. Inzwischen mache ich es so, dass ich verschiedene Projekte in verschiedenen Stadien nebenherlaufen habe: Wenn der eine Film im Schnitt ist, dann schreibe ich schon am nächsten, und wenn ich probe, schaue ich, dass das Nächste kommt, das überlappt sich.
Was beschäftigt Sie momentan?
Adrian Goiginger: Der nächste Film heißt „Rickerl“, ist grad am Fertigwerden und kommt im Jänner 2024 in die österreichischen Kinos. Vodoo Jürgens, ein Austropopper und Songwriter aus Wien, spielt da quasi eine Version von sich selbst. Das ist eine Tragikomödie, also mein mit Abstand lustigster Film bis jetzt. Ich freue mich schon sehr, denn bei einer Komödie kriegst du das Feedback von den Menschen direkt im Kinosaal: Lachen sie oder lachen sie nicht? Bei Filmen wie der „Fuchs“ ist es etwas anderes. Natürlich kannst du zählen, wie viele Leute zu den Taschentüchern greifen, wie viele jetzt heulen und sich schnäuzen, aber die Rückmeldung kriegst du es erst im Nachhinein. Also bin ich schon ein bisschen nervös.
Und danach?
Adrian Goiginger: Voraussichtlich im Herbst 2024 drehen wir den nächsten Film, der Arbeitstitel ist „vier minus drei“ und er beruht auf dem gleichnamigen Buch von Barbara Pachl-Eberhart. Sie hat 2008 bei einem Autounfall auf einen Schlag ihren Mann und ihre zwei kleinen Kinder verloren. Da geht es wieder sehr ums Muttersein und ich merke, wie sehr mich diese Bindung beeindruckt, die Mütter zu ihren Kleinkindern aufbauen. Das ist so stark, da können die Väter nicht mithalten, zumindest die ersten Jahre nicht. Bei mir selbst war es ja auch so, ich bin vaterlos aufgewachsen und habe so eine starke Bindung zu meiner Mutter gehabt. Das ist außergewöhnlich, ich freue mich darauf, das in dem neuen Film wiederherzustellen.
Nach drei männlichen Protagonisten also wieder eine weibliche Hauptfigur. Macht es für Sie einen Unterschied, welches Geschlecht die Hauptperson hat?
Adrian Goiginger: Überhaupt nicht, ein Mensch ist ein Mensch, das ist für mich ganz egal. Ich schaue auf das Herz und die Seele und das Innerste des Menschen. Ich finde das immer so lustig, weil ich nach „Die beste aller Welten“ gefragt wurde, warum ich so gut Frauen inszenieren kann. Ich hoffe, ich kann gut Menschen inszenieren, das hat ja nichts mit Geschlecht zu tun. Aber ich freue mich total, wieder einen Film mit einer Frau in der Hauptrolle zu machen, weil auch die echte Barbara Pachl-Eberhart so spannend ist.
Sie drehen auch gern mit Kindern – warum?
Adrian Goiginger: Weil die so authentisch und ehrlich sind, die verstellen sich nicht, das ist so schön. Bei erwachsenen Menschen ist es anders, da nehme ich mich selbst gar nicht aus, man verstellt sich, und gerade Schauspieler blenden gern einmal. Aber Kinder sind Kinder, die legen das Herz auf den Tisch und wenn sie dir vertrauen, dann ist das eine ganz tolle Zusammenarbeit. Auch hier schaffe ich das Vertrauen im Vorfeld, ich mache diverse Aktivitäten mit ihnen, gehe in den Zoo oder Eis essen oder Fußball spielen und schaue, dass ich ihr Kumpel werde.
Ist es nicht auch eine besondere Verantwortung, mit Kindern zu drehen?
Adrian Goiginger: Schon, aber irgendwie fällt mir das leicht – vielleicht auch, weil ich selber zwei kleine Kinder habe. Ich arbeite auch sehr eng mit den Eltern zusammen, spreche alles ab und treffe mich privat mit ihnen. Mir ist ganz wichtig, dass mir die Eltern vertrauen, und dann ist das ein gemeinsames großes Projekt. Gerade für Kinder ist so ein Dreh natürlich superspannend und cool und sie sind im Mittelpunkt, alle sind nett zu ihnen, in der Pause wird Fußball gespielt. Für die Kinder ist es am schlimmsten, wenn der Dreh dann vorbei ist. Dann müssen sie zurück in die Schule und der Trott geht wieder los. Aber ich bleibe mit ihnen in Kontakt, auch wenn unser Projekt zu Ende ist.
Würden Sie auch mit Ihren eigenen Kindern drehen?
Adrian Goiginger: (lacht) Na, niemals! Erstens wollen sie es eh nicht, denn ihr Ding ist der Sport, Film interessiert sie überhaupt nicht. Zweitens glaube ich, das ginge nicht gut, speziell, wenn sie ihre Trotzphase haben. Wenn ich mit meinen Kindern Tennis spielen oder Ski fahren gehe, sind sie viel skeptischer, wenn ich ihnen etwas zeige. Aber wenn der Trainer oder die Skilehrerin was sagt, dann machen sie alles nach. Selbst wenn ich ihnen haargenau dasselbe sage, höre ich: „Nein, Papa, wir machen das anders.“ Und ich fürchte, so wäre es auch beim Schauspielen. Deswegen braucht es eine externe Person. Also wenn meine Sechsjährige jetzt sagen würde, sie würde gern schauspielen, dann würde ich ihr eher die Rutsche legen zu anderen Kindercastings, aber nicht bei mir. Da brauchst du Abstand – das ist zu nah.
Womit wir wieder beim Thema Nähe wären … Wann kommt Ihnen eine Geschichte nah genug, dass Sie sie verfilmen wollen?
Adrian Goiginger: Die Entscheidung reift über Jahre, und wenn der Wunsch, die Geschichte zu erzählen, bleibt, dann ist es ein gutes Zeichen. Ich habe meine engsten Vertrauten, mit denen ich das dann bespreche und die sehr ehrlich zu mir sind. Und da merke ich, ob es sie interessiert und wie es ankommt. Wenn es mich irgendwann nicht mehr loslässt, dann vertraue ich auf meinen Instinkt, dass ich etwas daraus machen sollte.