Wenn Krisenweltmeister voneinander lernen

 

Beim  ersten Kongress des „International Network of Social Tours“ tauschten sich von Armut betroffene Männer und Frauen über ihre Straßenexpertise aus. Sie erzählen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf sozialen Stadttouren von den harten Außenkanten des Lebens. Ein neues Berufsfeld, das in Basel gewürdigt wurde.

 

von Julia Sommerfeld

 

An einem sonnigen Septembermorgen geht es endlich los. Im verwunschenen Garten der Wärmestube „Soup&Chill“ hinter dem Basler Bahnhof startet die erste Weiterbildung von „INST – International Network of Social Tours“ für Führer:innen Sozialer Stadtrundgänge aus dem deutschsprachigen Raum. Der 2019 gegründete Dachverband verschiedener Organisationen und Anbieter von Sozialen Stadtrundgängen macht Armut, Obdachlosigkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung sichtbar und schafft Lohn- sowie neue Lebensperspektiven. 

„Wir wollen kein Mitleid. Wir sind Profis“, sagt Uwe Hinsche und verdeutlicht die Relevanz der Peer-Weiterbildung für die Stadtführer:innen, die basierend auf persönlichen Krisenerfahrungen für die blinden Flecke ihrer Stadtgesellschaften sensibilisieren. So steht neben Solidarität und dem Knüpfen von Kontakten die Professionalisierung der eigenen Führungen auf der Agenda des üppigen dreitägigen Programms. Dieses wurde organisiert von Sybille Roter, Leiterin der Sozialen Stadtrundgänge von Surprise in Basel und Geschäftsleiterin von INST, in Kooperation mit der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Das Programm umfasst sechs Workshops, sechs Soziale Stadtführungen durch Basel sowie Freizeitangebote.

Ein lautes, munteres Gewusel, kameradschaftliche Handschläge und Umarmungen, daneben werden Lunchpakete und Infozettel zum Tagesprogramm verteilt. Hier ist eine bunte Gruppe aus 25 Stadtführer:innen sowie den Redakteur:innen und Koordinator:innen verschiedener Anbieter Sozialer Stadttouren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengekommen. Dabei sind das Magazin „Straßenkreuzer“ mit seinen „Schicht-Wechsel“-Führungen aus Nürnberg, „Biss“-Straßenzeitung und Führungen aus München, „querstadtein“-Touren aus Berlin, „Bodo“-Straßenmagazin und Führungen aus Bochum und Dortmund, „Apropos“-Straßenzeitung und Stadtspaziergänge aus Salzburg, „Supertramps“-Stadtrundgänge aus Wien und „Surprise“-Straßenmagazin und Touren aus Basel, Bern und Zürich. Den angemeldeten Teilnehmer:innen von „Asphalt“ (Hannover) und „Hinz&Kunzt“ (Hamburg) machte leider der Streik der Deutschen Bahn einen Strich durch die Rechnung. 

Der Kies knirscht unter Füßen und Rollstühlen, wir verlassen den Garten. Das Ziel ist die nahgelegene Hochschule für Soziale Arbeit. Schon nach wenigen Metern wird klar, dies ist kein üblicher Kongress. Denn bereits die ersten Gespräche entlang des Weges strotzen vor intensiven Erfahrungen vom Leben an den harten Außenkanten der Gesellschaft. Dass die Teilnehmer:innen durch die Workshops an der Hochschule nun die Möglichkeit erhalten, ihr reichhaltiges informelles Wissen vom Leben auf der Straße zu professionalisieren und abschließend ein Zertifikat als „Gesellschaftliche Vermittler:in“ zu erhalten, macht den Kongress zusätzlich zu etwas Besonderem. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Zertifikat erhalte“, freut sich eine Teilnehmerin. Das Fundament für die Zertifizierung stelle eine seit 2013 bestehende Zusammenarbeit zwischen der Hochschule und dem Straßenmagazin Surprise in Basel dar, berichten der Dozent Christoph Mattes und der ehemalige Stadtführer Rolf Mauti. Damals hatte man erstmals die Teilnahme von Studierenden an einem Sozialen Stadtrundgang im Curriculum verankert. 

Erstaunen, Empören und Mitgefühl stehen in den Gesichtern der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Workshops zum Thema „Schulden“, während sie der Basler Stadtführerin Lilian Senn zuhören, die von ihrer hohen Verschuldung erzählt. Die Fragilität der Identität zwischen individuellen Schicksalsschlägen und strukturellen politischen Rahmenbedingungen wird hierbei deutlich spürbar. Workshopleiter Christoph Mattes informiert über die aktuelle Entwicklung der privaten Verschuldung in Österreich, Deutschland und der Schweiz und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. 

„Wenn wir nicht dagegen angekämpft hätten, wären wir untergegangen“, sinniert Dirk Schuchardt im parallel stattfindenden Workshop „Wege aus der Armut“ bei Carlo Knöpfel, der die familiär-biografischen Zusammenhänge von Armut reflektiert. Speziell um das Thema „Obdachlosigkeit“ als gravierendste Form der Armut geht es am folgenden Tag im Workshop von Matthias Drilling. Die Frage „Was stärkt die Gesundheit oder psychische Widerstandskraft, um Lebenssituationen zu bewältigen?“ prägt den Workshop von Amina Trevisan. An der konkreten Professionalisierung ihrer Stadtführungen arbeiten die Teilnehmer:innen, indem sie sich zu den Themen „Auftrittskompetenz“ und „Körpersprache“ bei Graziella Cisternino sowie zum Thema „Storytelling“ bei Sybille Burckhardt weiterbilden. 

Die Kraft des biografischen Erzählens wird deutlich spürbar in Danica Grafs Surprise-Tour „Von der Opferrolle zur Selbsthilfe“ über Frauenarmut in Basel. „Gewalt und Armut lassen Menschen verstummen“, erzählt sie aus eigener bitterer Erfahrung, während sie am Morgen des letzten Kongresstages durch das nahe dem Rhein gelegene Quartier Kleinbasel führt. Dass Danica Graf, wie auch alle anderen teilnehmenden Stadtführer:innen, ihre Stimme wiedergefunden hat und den Mut besitzt, sich in ihrer Verletzlichkeit zu zeigen, beeindruckt tief! Im Rückblick auf jahrelange Gewalt- und Missbrauchserfahrungen sowie mehrere Schicksalsschläge hätte sie sich gewünscht, dass Leute nachgefragt hätten, wie es ihr ging. Ihre Worte verdeutlichen, wie wichtig Austausch und gelebte Solidarität sind in einer Gesellschaft, die von Vereinzelung geprägt ist. 

Ganz nebenbei verändern Führer:innen Sozialer Stadttouren den eigenen Blick aufs Materielle, Gestaltete in einer Stadt. Man lernt Parkbänke erkennen, deren Form verhindern soll, dass auf ihnen geschlafen wird. Mannigfach umlaufene Ecken des Basler Hauptbahnhofs werden zum sichtbareren Teil eines unbekannten Netzes sozialer Strukturen: Hier ist ein angestammter Ort einer ehemaligen Kollegin zum Verkaufen der neuesten Surprise-Nummer, dort der bevorzugte Schlafplatz eines Bekannten. 

Das gemeinsame Durchlaufen des Stadtführungsangebots von Surprise in Basel initiierte unter den Teilnehmer*innen einen fruchtbaren Austausch über die Möglichkeiten der Gestaltung von Sozialen Stadtführungen. Dies war insbesondere auch für all jene hilfreich, die sich gegenwärtig mit der Überarbeitung oder dem Neuaufbau von Sozialen Touren in ihren Städten beschäftigen. Tito Ries aus Basel und Katie Messerli aus Bern, Stadtführer und Stadtführerin in Ausbildung, blicken dank der Weiterbildung und Zertifizierung als „Gesellschaftliche Vermittler:innen“ bestärkt ihrer Laufbahn als Soziale Stadtführer:innen entgegen. „Ich habe gemerkt, dass es der beste Arbeitsplatz für mich ist. Du kannst dich ehrlich öffnen und auch Dinge erzählen, die nicht so positiv sind“, freut sich Katie.